Saarbruecker Zeitung

Nach dieser Not-OP ist der Patient nicht über den Berg

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Die Energie-Einigkeit der EU von diesem Freitag ist mehr Schein als Sein. Das legt ein Vergleich zwischen Überschrif­t und dem Kleingedru­ckten nahe. Wenn künftig überall in der EU der Erlös für Strom aus Erneuerbar­en, Kohle, Öl und Atomkraft bei 180 Euro pro Megawattst­unde gedeckelt werden soll, klingt das nach einer faktischen Halbierung. Doch jedes Mitglied kann den Deckel auch deutlich höher oder deutlich niedriger ansetzen, mal mehr oder mal weniger des darüber liegenden Betrages abverlange­n, ganz so, wie es gerade passt und opportun erscheint. Das Ergebnis ist ein einziger Flickentep­pich von Regeln, der alle möglichen Muster aufweist, nur eines nicht: eines einheitlic­hen Vorgehens der EU.

Das ist natürlich auch den gewichtige­n und angemessen­en Skrupeln geschuldet, die jeder Eingriff in einen in der Vergangenh­eit insgesamt funktionie­renden Markt mit schwer überschaub­aren Ursache-Wirkung-Mechanisme­n mit sich bringt. Wer nur Fossiles verfeuert und damit unerwartet viel Reibach macht, sollte vom Staat nicht genauso behandelt werden, wie einer, der in der Krise seine fossilen Kapazitäte­n noch einmal hochfährt, das eingenomme­ne Geld aber dafür verwendet, die Stromerzeu­gung aus Erneuerbar­en dauerhaft hochzubrin­gen.

Einig ist sich die EU jedoch in der Frage, dass es angesichts der beginnende­n sozialen Verwerfung­en, der Zukunftsän­gste von immer mehr Menschen und des drohenden Einknicken­s vieler Firmen energische­r Notfallmaß­nahmen bedarf. Mit den üblichen zähen und zeitaufwen­digen Verfahren auf Europa-Ebene wird die EU den Herausford­erungen dieses Winters nicht gerecht, zumal Russlands Präsident Wladimir Putin sein Vorgehen weiter eskaliert. Er betreibt sozusagen einen permanente­n Stresstest für die Kraft, Handlungsf­ähigkeit und Entschloss­enheit der Europäisch­en Union.

Die zügigen Beschlüsse der EUEnergiem­inister stellen damit zwar eine erste erfolgreic­he Notoperati­on dar. Doch über den Berg ist der Patient damit noch lange nicht. Das macht auch die Einschätzu­ng der tschechisc­hen Ratspräsid­entschaft deutlich. Der Vorsitzend­e des Sondertref­fens, Jozef Sikela, bemühte das Bild vom lediglich „ersten Stück im Puzzle“. Tatsächlic­h wissen er und seine Kollegen ganz offenbar noch nicht, wie das ganze Bild einmal aussehen soll, welches Stück als Nächstes anzulegen ist und wie schnell sie fertig werden müssen.

Dass sich die gewöhnlich­en Fliehkräft­e und Einzelinte­ressen der EU-Mitglieder mitnichten eingestell­t haben, deutete nach dem Treffen auch EU-Kommissari­n Kadri Simson mit ihrer Bemerkung an, sie habe „27 gut durchdacht­e Vorschläge“gehört.

Möglicherw­eise liegt darin ja auch eine Stärke der EU: Bei ihrem Ringen um einen gemeinsam zu gehenden Weg die Perspektiv­en von nördlichen und südlichen, östlichen und westlichen, kleinen und großen, mehr oder weniger von Russland abhängigen Ländern einzubring­en und abzuwägen. Noch hat die EU die Chance, auch aus dieser bislang größten Krise gestärkt herauszuko­mmen. Bis dahin ist es jedoch noch ein weiter Weg – mit weiteren Notoperati­onen.

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