Saarbruecker Zeitung

Mit Erfinderge­ist zum Weltkonzer­n

Was mit einem verbessert­en Zeigertele­grafen begann, digitalisi­ert heute die Industrie. Siemens hat sich seit seiner Gründung mehr als einmal gehäutet.

- VON CHRISTOF RÜHRMAIR Produktion dieser Seite: Vincent Bauer Martin Wittenmeie­r

MÜNCHEN/BERLIN (dpa) Eigentlich könnten an diesem Samstag vier deutsche Dax-Konzerne ihren 175. Geburtstag feiern. Denn heute jährt sich der Gesellscha­ftervertra­g, mit dem Siemens seinen Anfang nahm. Was als Hinterhofw­erkstatt für den Bau verbessert­er Zeigertele­grafen begann, hilft heute weltweit Unternehme­n bei der vierten industriel­len Revolution, baut intelligen­te Infrastruk­tur und einen Marktplatz für digitale Dienstleis­tungen. Auf dem Weg dorthin hat sich der Konzern immer wieder gewandelt und dabei drei weiteren Dax-Konzernen auf die Welt geholfen.

Es ist schwierig geworden, Siemens anschaulic­h zu erklären, denn Digitalisi­erung und Software für Industrie und Infrastruk­tur spielen eine immer größere Rolle im Konzern. Und vieles, was man einst mit Siemens verband, wie Handys, Telefone, Kühlschrän­ke oder Kraftwerks­turbinen, produziere­n die Münchner heute nicht mehr.

Noch am einfachste­n ist es bei der kleinsten der drei Kernsparte­n, Mobility: Züge und Bahninfras­truktur. Sie sind vielleicht der prominente­ste direkte Kontaktpun­kt zum Otto Normalverb­raucher. Doch das meiste

Geld verdiente Siemens zuletzt in seiner Sparte Digital Industries, weit weg vom Verbrauche­r. Hier geht es um Fabriken und Fertigungs­linien und deren Simulation, ums Probleme aufspüren und sie zu beheben, bevor sie auftreten, um die kontinuier­liche Überwachun­g und Optimierun­g der Produktion. Künstliche Intelligen­z (KI), digitale Abbilder der Realität und Cloudlösun­gen sind hier die Werkzeuge. Beim schnellen Aufbau von Anlagen für Corona-Impfstoffe hat Siemens etwa mitgearbei­tet und realisiert zusammen mit Daimler die Autofabrik der Zukunft.

Und die nächsten Ziele sind schon abgesteckt: Zusammen mit dem Grafikkart­enherstell­er und Spezialist­en bei Chips für künstliche Intelligen­z Nvidia will Siemens eine Art Industrie-Metaversum entwickeln und seine digitalen Modelle mit realistisc­herer Darstellun­g und Echtzeit-KI von Nvidia kombiniere­n. Damit werde man der Digitalisi­erung „buchstäbli­ch eine weitere Dimension erschließe­n“, schwärmt Konzernche­f Roland Busch.

Inzwischen geht die Hinwendung zum Digitalen manchen schon fast zu weit. „Siemens wird nie ein reines Softwareun­ternehmen werden“, betonte der IG Metall-Hauptkassi­erer und Siemens-Aufsichtsr­at Jürgen Kerner im August. Zu den zentralen Stärken von Siemens gehöre, in beiden Welten vertreten zu sein. Dank seiner Hardware sitze der Konzern schon im Maschinenr­aum der Industrie – dort, wo die reinen Software-Konkurrent­en erst hin wollten.

„Unser Anspruch ist, dass wir uns immer wieder neu erfinden, neue

Technologi­en und Trends antizipier­en, agil bleiben und uns nicht auf Erfolgen ausruhen“, sagt Busch. „Wir wollen auch die nächsten 175 Jahre weltweit eine Hauptrolle spielen.“

Dieses neu erfinden hat sich in den vergangene­n Jahren nicht nur in oft digitalen Vorstößen und einer Betonung von Themen wie Klimaschut­z und Ressourcen­schonung gezeigt, sondern auch in einem radikalen Umbau. Während andere Unterneh

men mit der Corona-Krise kämpften, die Siemens mit erstaunlic­her Stabilität wegsteckte, vollendete der Konzern das Projekt Fokussieru­ng.

Nach dem eher unerfreuli­chen Start ins neue Jahrtausen­d mit Schmiergel­dskandal und einer Schwächeph­ase im Geschäft, wollte Siemens weg vom Image des Gemischtwa­renladens, der alles vom Handy bis zur Gasturbine herstellte. Das ist auch der Grund für zwei der bereits angesproch­enen weiteren Dax-Konzerne. Mit Siemens Healthinee­rs und Siemens Energy haben die Münchner mit Berliner Wurzeln in den vergangene­n Jahren ihre Gesundheit­stechnik und ihre Energietec­hnik an die Börse gebracht. Beide groß genug, um selbst in den Dax aufzusteig­en. Und beide gäbe es nicht, wenn nicht am 1. Oktober 1847 eine Firma gegründet worden wäre, die anfangs – aus rechtliche­n Gründen – noch nicht einmal Siemens hieß, sondern auch nach dem Geschäftsp­artner Halske benannt war.

Fehlt noch der vierte Dax-Konzern. Als einziger trägt er nicht den Namen des Firmengrün­ders, doch auch er entstand als Ausglieder­ung: Infineons Wurzel ist die ehemalige Halbleiter-Sparte von Siemens. Und allen vier Unternehme­n ist eine weitere Besonderhe­it gemeinsam: Ihr Geschäftsj­ahr beginnt nicht wie bei den meisten deutschen Konzerne am 1. Januar, sondern am 1. Oktober – wie vor 175 Jahren die Geschichte von Siemens.

„Unser Anspruch ist, dass wir uns immer wieder neu erfinden.“Roland Busch Siemens-Konzernche­f

 ?? FOTO: SVEN HOPPE/DPA ?? Werner von Siemens erfand im Jahr 1846 den Siemens-Zeigertele­grafen. Ein Jahr später gründeten Siemens und der Mechaniker Johann Georg Halske das Unternehme­n „Telegraphe­n-Bauanstalt Siemens & Halske“.
FOTO: SVEN HOPPE/DPA Werner von Siemens erfand im Jahr 1846 den Siemens-Zeigertele­grafen. Ein Jahr später gründeten Siemens und der Mechaniker Johann Georg Halske das Unternehme­n „Telegraphe­n-Bauanstalt Siemens & Halske“.

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