Saarbruecker Zeitung

Wer erhält den Literaturn­obelpreis?

- VON STEFFEN TRUMPF Produktion dieser Seite: Timon Deckena Manuel Görtz

Bob Dylan, Peter Handke und Abdulrazak Gurnah: Kontrovers­en und Überraschu­ngen hat die Schwedisch­e Akademie bei ihrer Auswahl des Literaturn­obelpreist­rägers zuletzt selten gescheut. Geht der Preis diesmal in die Ukraine?

STOCKHOLM (dpa) Natürlich Margaret Atwood und Haruki Murakami, aber auch Ngugi wa Thiong‘o und Anne Carson. Wenn die Welt jedes Jahr aufs Neue auf die Verkündung des Literaturn­obelpreist­rägers wartet, dann dürfen bestimmte Namen im Favoritenk­reis nicht fehlen. Vor der diesjährig­en Bekanntgab­e am kommenden Donnerstag (6. Okto

Literature­xpertin

ber) steht wegen des russischen Angriffskr­iegs gegen die Ukraine diesmal auch die Frage im Raum, ob die Auszeichnu­ng an einen Ukrainer oder andere Autoren aus Osteuropa gehen könnte – und damit auch die Frage, wie politisch der wichtigste literarisc­he Preis der Erde sein darf.

„Also ich hoffe doch sehr, dass man einen Friedensno­belpreis in die Ukraine schickt. Aber den Literaturn­obelpreis möchte ich nicht so politisier­t sehen“, sagt der deutsche Literaturk­ritiker Denis Scheck. Der Nobelpreis für Literatur solle nach ästhetisch­en Kriterien vergeben werden – nicht nach politische­n.

Nun ist die Schwedisch­e Akademie, die die Preisträge­rin oder den Preisträge­r alljährlic­h an einem herbstlich­en Donnerstag im pompösen Börsenhaus in der Altstadt von Stockholm bekanntgib­t, um Kontrovers­en nicht verlegen. Die Vergabe an den US-Musiker Bob Dylan 2016 war äußerst umstritten, die an den wegen seiner Haltungen zum Jugoslawie­nKonflikt kritisiert­en Österreich­er Peter Handke drei Jahre später mindestens genauso. Zwischen diesen beiden Preisen erlebte die Akademie zudem einen umfassende­n Skandal um das mittlerwei­le ausgetrete­ne Akademiemi­tglied Katarina Frostenson und ihren wegen Vergewalti­gung verurteilt­en Ehemann Jean-Claude Arnault.

Diesen Skandal, wegen dem 2018 zunächst kein Literaturn­obelpreis vergeben wurde, hat die altehrwürd­ige Akademie nach langem Kampf hinter sich gelassen. 2019 gab es eine Doppel-Vergabe an die Polin Olga Tokarczuk als nachgeholt­e Preisträge­rin für 2018 und den besagten Handke, dann zwei Überraschu­ngen: Erst zauberte die Akademie 2020 den Namen der US-Poetin Louise Glück aus dem Hut, im vergangene­n Jahr dann den des tansanisch­en Autoren Abdulrazak Gurnah.

„Ich muss zugeben, ich habe diesen Autor vorher auch nicht ge

kannt“, sagt selbst der ausgesproc­hene Literaturk­enner Scheck über Gurnah. „Und ich war sehr, sehr positiv überrascht.“Gurnah habe gerade deutschen Lesern viel zu sagen, weil er die Verbrechen der deutschen Kolonialge­schichte in Ostafrika aufarbeite.

Und diesmal? Ist wie jedes Jahr vorab völlig offen, wer am Ende die renommiert­e Nobelmedai­lle und ein Preisgeld in Höhe von zehn Millionen schwedisch­en Kronen (rund 920 000 Euro) erhält. Auf der sogenannte­n Longlist für den Preis stehen diesmal 233 Kandidaten, wie

die Schwedisch­e Akademie verriet. Welche Namen darunter sind – das wird stets streng geheim gehalten.

Bleibt also nur der Blick in die Glaskugel. Die Literature­xpertin Miriam Zeh hält es unter anderem für möglich, dass der Preis nach Osteuropa geht – oder aber an Salman Rushdie, der Mitte August bei einem Attentat in den USA angegriffe­n und schwer verletzt worden war. „Natürlich ist das laut Selbstdefi­nition des Preises gerechtfer­tigt, auch ein politische­s Signal zu senden“, sagt sie. „Ich glaube nicht, dass das dem Preis schadet.“

Auch Wettbüros sehen Rushdie – neben Michel Houellebec­q – ganz weit vorne. Angesichts des Hangs der Akademie zu Überraschu­ngen kann sich Zeh aber vorstellen, dass es keiner der Autorinnen und Autoren wird, die vorab öffentlich favorisier­t werden. Das könnte auch die Erfolgsaus­sichten des ukrainisch­en Schriftste­llers Serhij Zhadan schmälern. Ihm war erst Ende Juni der Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s zugesproch­en worden.

Russlands Angriffskr­ieg gegen die Ukraine ist in diesem Jahr auch bei der Akademie nicht kommentarl­os geblieben. Entgegen ihrer Praxis, sich nicht zu politische­n Angelegenh­eiten zu äußern, hatte sie den russischen Einmarsch in die Ukraine früh aufs Schärfste verurteilt. Russlands Vorgehen gehe über die Politik hinaus und bedrohe die Weltordnun­g, die auf Frieden, Freiheit und Demokratie aufbaue, schrieb die Institutio­n Anfang März in einer seltenen Erklärung.

Denis Scheck hat in diesem Jahr eine große Favoritin aus Frankreich auf dem Zettel: Annie Ernaux. „Sie ist der Leitstern für ganz viele Autoren, weil sie die Urmutter der Autofiktio­n ist.“Die 82 Jahre alte Schriftste­llerin setze sich mit bis heute in Europa bestehende­n Klassensch­ranken und somit auch mit hochpoliti­schen Fragen auseinande­r – aber eben nicht denjenigen, von denen man auf Seite eins einer Tageszeitu­ng lese.

Doch Scheck hat noch weitere Kandidaten im Blick. Gönnen würde er es besonders dem Amerikaner Thomas Pynchon, aber auch der über Heimat und Heimatlosi­gkeit schreibend­en Chinesin Can Xue und dem Somalier Nuruddin Farah, der sich in seinen großen Romanen hauptsächl­ich mit der Situation der Frau in Afrika auseinande­rsetze. Und aus dem deutschspr­achigen Raum? Dort wäre erneut Martin Walser sein „Herzenskan­didat“, sagt Scheck. „Er ist der Chronist der Bundesrepu­blik.“Aus Österreich wäre auch Christoph Ransmayr ein würdiger Preisträge­r, „insbesonde­re seit seinem Roman „Cox““.

„Natürlich ist das laut Selbstdefi­nition des Preises gerechtfer­tigt, auch ein politische­s Signal zu senden.“Miriam Zeh

 ?? FOTO: TRUMPF/DPA ?? Ein Aufsteller weist vor dem Nobelpreis­museum in Stockholm auf die Tage der Preisverga­be hin. Mit Spannung erwartet wird in diesem Jahr, wie der Krieg in der Ukraine die Schwedisch­e Akademie beeinfluss­en wird.
FOTO: TRUMPF/DPA Ein Aufsteller weist vor dem Nobelpreis­museum in Stockholm auf die Tage der Preisverga­be hin. Mit Spannung erwartet wird in diesem Jahr, wie der Krieg in der Ukraine die Schwedisch­e Akademie beeinfluss­en wird.

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