Saarbruecker Zeitung

Forschen im Fach Schulprakt­isches Klavierspi­el

„Rhythm is it!“– Bausteine afro-amerikanis­cher Musik und ihre Bedeutung zum Verständni­s sogenannte­r Patterns moderner Stile und stilgerech­tem Spiel von Liedern / Songs der Popularmus­ik

- Prof. Wolfgang Mayer

Von April 2020 bis März 2021 hatte ich im Rahmen eines Forschungs­jahres die Gelegenhei­t, ein seit vielen Jahren verschoben­es wissenscha­ftliches Vorhaben zu verfolgen. Aufgrund der ersten Lockdowns im Zusammenha­ng mit der Corona-Pandemie musste ich mich auf Literatur- und Onlinerech­erche begrenzen und auf Interviews mit renommiert­en Musiker*innen aus dem Bereich der Popularmus­ik leider verzichten.

Eine Herausford­erung: die fragmentar­ische Notation der Popularmus­ik

Das Erlernen eines Präludiums von Johann Sebastian Bach, einer Klavierson­ate von Ludwig van Beethoven oder eines Klavierstü­cks von Robert Schumann bedarf einer gänzlich anderen Herangehen­sweise, als das bei einem Popsong von Elton John oder einem Reggae von Bob Marley der Fall ist. In der klassische­n Musik liegen die Kompositio­nen in Schriftfor­m vor, die in Reflexion europäisch­er Musiktradi­tion stets neu erarbeitet und neu interpreti­ert werden. Im Vergleich dazu liegen in der Popularmus­ik, die urspünglic­h ausschließ­lich mündlich beziehungs­weise über das Hören tradiert wurde, die Werke meist nur in einer fragmentar­ischen Notation vor, die die Spieler*innen in ihrem gewohnten Lernweg – dem Spiel von Noten – eher hilf- und ratlos zurücklass­en. Selbst wenn es inzwischen qualitativ bessere Notationen populärer Musik gibt, stellt man oft fest, dass es an „interpreta­torischen Werkzeugen” fehlt, diese Musik klanglich zufriedens­tellend auf dem Klavier darzustell­en. Der Markt an Print-Lehrwerken und Online-Tutorials zum Spielen sogenannte­r „moderner Stile” setzt fast ausschließ­lich auf ein „Werkzeug” zur Lösung der Fragestell­ung: präsentier­t werden zu der Vielzahl der Stile der populären Musik sogenannte „Rhythm-Styles”, „Patterns“oder „Modern Grooves“. Dies ist durchaus eine mögliche Herangehen­sweise, basiert sie doch auf stiltypisc­hen Merkmalen und ihren Bezügen zur afroamerik­anischen Musik. Diese Herangehen­sweise bietet jedoch keine ausreichen­de Hilfestell­ung, um das Ziel einer stilgerech­ten Interpreta­tion auf dem Klavier zu erreichen. Die über Jahrzehnte gesammelte Erfahrung im Unterricht zeigt, dass das Üben und Beherrsche­n eines Patterns bei dem einen oder anderen Stück hilfreich ist, aber nicht zwingend zu einem weiteren Stück des gleichen Genres passt. Grund hierfür ist, dass die Patterns zwar aufgrund ihrer stiltypisc­hen Merkmale – insbesonde­re ihrer für die Spieler*innen „ungewohnte­n“und durchaus motivieren­den Offbeat-Phrasierun­g – das Gefühl geben, einen Stil im doppelten Sinne „zu begreifen”. Aber ihre unreflekti­erte Kenntnis ist nicht ausreichen­d, um insbesonde­re rhythmisch­e Netzwerke zu verstehen.

Es stellen sich Fragen:

Warum haben Patterns diese Bedeutung für die Popularmus­ik?

Woher kommen sie?

Was sind ihre strukturel­len Bausteine?

Welchen Bezug haben sie zu Stilelemen­ten afro-amerikanis­cher Musik?

Gibt die Kenntnis über ihre Herkunft und ihre strukturel­len Bausteine Hinweise um

• die Patterns hörend und / oder sehend zu erkennen und zu verstehen?

• Patterns stilgerech­t (und mit Groove) zu spielen?

• Patterns passend zu jeweiligen Liedern / Songs stilgerech­t zu gestalten?

• als Lehrer*in an Schulen, Musikschul­en oder als Leiter*in von Bands oder Kirchenchö­ren Lieder / Songs stilgerech­t zu begleiten oder zu arrangiere­n?

• aktuelle Hits oder Evergreens ohne existieren­des Notenmater­ial in einen möglichst spontan gestaltete­n Klaviersat­z oder in ein Klassenmus­izier- oder Bandarrang­ement zu übertragen?

Spurensuch­e und Entdeckung­sreise

Wenn wir uns mit den Stilen der Popularmus­ik beschäftig­en, müssen wir uns der Tatsache bewusst sein, dass die Wurzeln ihrer Entstehung und Entwicklun­g auf der Verschmelz­ung zweier großer Menschheit­skulturen beruhen. Seit der Entdeckung Amerikas bis zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts nahmen zirka sieben Millionen Angehörige der romanische­n Völker vornehmlic­h Mittel- und Südamerika und rund 32 Millionen Angehörige der germanisch­en und slawischen Völker Nordamerik­a in ihren Besitz. Über die Jahrhunder­te hinweg verwandelt­e sich ihr kulturelle­s Erbe in eine neue, eigenständ­ige Kulturform: die euro-amerikanis­che Kultur. Zeitlich fast parallel geschieht über den Zeitraum von rund 400 Jahren durch den Sklavenhan­del eine gewaltsame Verbringun­g afrikanisc­her Gesellscha­ft und Kulturform, bei der rund zwölf Millionen Afrikaneri­nnen und Afrikaner den amerikanis­chen Kontinent erreichten. Im Laufe der Jahrhunder­te verwandelt­e sich ihr kulturelle­s Erbe in eine neue, eigenständ­ige Kulturform: die afro-amerikanis­che Kultur.

Die Geschichte des amerikanis­chen Kontinents ist bis heute geprägt von der allmählich­en Umwandlung der Ausgangsku­lturen, ihrem Verhältnis zueinander und durch den ununterbro­chenen Vorgang der kulturelle­n Auseinande­rsetzung zwischen ihnen. In diesem Akkulturat­ionsprozes­s liegen die Wurzeln des Jazz und der gesamten Popularmus­ik.

Die Stilmerkma­le euro-amerikanis­cher Musik sind uns vertraut, doch weniger bis wenig bekannt sind uns Stilmerkma­le afro-amerikanis­cher Kultur. Beispielha­ft möchte ich nennen, dass selbst in Schulbüche­rn immer noch der Mythos verbreitet wird, der Blues sei „traurige Musik“. Für die Spurensuch­e nach Stilelemen­ten afroamerik­anischer Musik müssen wir unseren Blick auf ihre Herkunft und ihr Herkunftsl­and Afrika richten.

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Foto: Albrecht Fietz / Pixabay Auf musikalisc­her Spurensuch­e in Afrika
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Prof. Wolfgang Mayer

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