Saarbruecker Zeitung

Ein Warnschuss für Brasiliens Demokratie

In einem überrasche­nd engen Rennen um das höchste Staatsamt Brasiliens hat der linke Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva die erste Wahlrunde gegen Amtsinhabe­r Jair Bolsonaro für sich entschiede­n – aber nur knapp.

- VON KLAUS EHRINGFELD Produktion dieser Seite: Martin Wittenmeie­r Ulrich Brenner

MEXIKO-STADT/BRASILA Brasiliens Linke ist jäh aus dem Traum einer schnellen und komfortabl­en Rückkehr an die Macht gerissen worden. Ihr Kandidat Lula da Silva gewann eine hart und harsch umkämpfte Wahl um das Präsidente­namt zwar am Ende mit fünf Prozentpun­kten Vorsprung, aber die eigentlich­e Nachricht des Sonntags ist das unerwartet starke Abschneide­n des rechtsradi­kalen Amtsinhabe­rs Jair Bolsonaro. Die Umfragen hatten Lulas Wahlsieg recht genau vorhergesa­gt, aber Bolsonaros Potenzial wurde von ihnen krass unterschät­zt.

Ihn hatten die Meinungsfo­rscher bei lediglich 36 Prozent der Stimmen verortet. Am Ende stimmten für ihn mehr als 43 Prozent der 156 Millionen Wahlberech­tigten. Nun muss Lula in der Stichwahl den Unentschlo­ssenen mehr anbieten als Nostalgie und die Erinnerung an die „goldenen Zeiten“, als er zwischen 2003 und 2011 regierte und es Brasilien und der Bevölkerun­g deutlich besser ging als jetzt. Der 76-Jährige muss vor allem sein Wirtschaft­sprogramm konkretisi­eren und versuchen, die Menschen davon zu überzeugen, dass seine künftige Regierung nicht korrupt sein wird.

Bolsonaro, der trotz der Niederlage der eigentlich­e Gewinner ist, wird Lulas Hauptwähle­rschaft, die Armen und Bitterarme­n, umgarnen. Das machte er am Wahlabend schon klar. Der politische Vorteil liegt nach diesem Sonntag überrasche­nd beim Amtsinhabe­r. Zumal er in gewisser Weise Recht behielt mit der Kritik an den Meinungsum­fragen, die er als gefälscht und politisch motiviert bezeichnet­e.

Bolsonaros Abschneide­n ist umso erstaunlic­her, als er nicht nur gegen Lula antrat, sondern auch die großen Medien, wichtige Politiker der liberalen Mitte und des Mitte-RechtsSpek­trums sowie sogar Teile der Wirtschaft gegen sich hatte. Man muss fürchten, dass ihm eine Öffnung zur Mitte weitere Stimmen bringen könnte. Zudem muss Lula beunruhige­n, dass Bolsonaros Partei PL bei den gleichzeit­igen allgemeine­n Wahlen viele Bewerber in Abgeordnet­enhaus und Senat bringen konnte. Auch viele Gouverneur­e stellt seine Partei künftig. All diese Gewinner werden in den kommenden vier Wochen mächtig für Bolsonora werben.

Ein weiterer Grund für seine hohe Stimmenzah­l könnte der Vormarsch

der erzkonserv­ativen Pfingstkir­chen in den vergangene­n Jahren sein, die massiv Werbung für Bolsonaro gemacht haben. Diese evangelika­len Kirchen sind inzwischen auch tief in die armen Bevölkerun­gsschichte­n eingedrung­en.

Aber dennoch bleibt ein Stück weit unerklärli­ch, wie ein Präsident mit einer derart desaströse­n Bilanz so viele Menschen überzeugen konnte. Bolsonaro hat wiederholt mit einem Staatsstre­ich kokettiert, er hat Richter des Obersten Gerichtsho­fs, Frauen, indigene Völker und Journalist­en beleidigt, hat eine Kampagne gegen Corona-Impfstoffe geführt, während fast eine Dreivierte­lmillion Brasiliane­r an Covid starben. Und er

hat das Amazonasge­biet der Gnade von Großgrundb­esitzern und Goldgräber­n ausgeliefe­rt.

Mitentsche­idend für den 30. Oktober wird sein, ob es Bolsonaro gelingt, seine hohe Ablehnungs­rate in der Bevölkerun­g zu verringern. Laut Umfragen würden 52 Prozent der Brasiliane­r niemals für den Amtsinhabe­r stimmen. Bei Lula liegt die Ablehnungs­quote bei 40 Prozent.

Hätte vor Sonntag noch jemand daran gezweifelt, dass Brasilien ein völlig gespaltene­s Land ist, dem diente das Wahlergebn­is als letzter Beweis. Fast hälftig stehen sich die Brasiliane­r weitgehend unversöhnl­ich mit zwei völlig diametrale­n Visionen ihres Landes gegenüber. Zudem

ist Brasilien regional gespalten. Der PT-Herausford­erer siegte im armen Nordosten und auch in weiten Teilen des Amazonas. Aber im europäisch geprägten Süden und vor allem im Industrie- und Finanzzent­rum São Paulo sowie in der Metropolre­gion Rio de Janeiro gewann Bolsonaro.

Die gute Nachricht des Wahltages ist, dass es weitgehend ruhig blieb und dass Bolsonaro nicht die Legitimitä­t des Ergebnisse­s in Frage stellte. Vielmehr zog er wie ein ganz normaler Politiker seine Schlüsse aus den Resultaten. Nach einem langen und erbittert geführten Wahlkampf, der von schwerer politische­r Gewalt geprägt war, ist das immerhin ein kleiner Gewinn für die Demokratie.

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FOTO: ANDRE PENNER/AP/DPA Herausford­erer Lula da Silva hat zwar die erste Runde der Präsidente­nwahl in Brasilien gewonnen. Amtsinhabe­r Jair Bolsonaro schnitt aber besser ab als erwartet. Nun steht das Land vor angespannt­en Wochen.
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FOTO: ANDRE COELHO/POOL EFE/AP/DPA Jair Bolsonaro, amtierende­r Präsident von Brasilien

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