Ein Warnschuss für Brasiliens Demokratie
In einem überraschend engen Rennen um das höchste Staatsamt Brasiliens hat der linke Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva die erste Wahlrunde gegen Amtsinhaber Jair Bolsonaro für sich entschieden – aber nur knapp.
MEXIKO-STADT/BRASILA Brasiliens Linke ist jäh aus dem Traum einer schnellen und komfortablen Rückkehr an die Macht gerissen worden. Ihr Kandidat Lula da Silva gewann eine hart und harsch umkämpfte Wahl um das Präsidentenamt zwar am Ende mit fünf Prozentpunkten Vorsprung, aber die eigentliche Nachricht des Sonntags ist das unerwartet starke Abschneiden des rechtsradikalen Amtsinhabers Jair Bolsonaro. Die Umfragen hatten Lulas Wahlsieg recht genau vorhergesagt, aber Bolsonaros Potenzial wurde von ihnen krass unterschätzt.
Ihn hatten die Meinungsforscher bei lediglich 36 Prozent der Stimmen verortet. Am Ende stimmten für ihn mehr als 43 Prozent der 156 Millionen Wahlberechtigten. Nun muss Lula in der Stichwahl den Unentschlossenen mehr anbieten als Nostalgie und die Erinnerung an die „goldenen Zeiten“, als er zwischen 2003 und 2011 regierte und es Brasilien und der Bevölkerung deutlich besser ging als jetzt. Der 76-Jährige muss vor allem sein Wirtschaftsprogramm konkretisieren und versuchen, die Menschen davon zu überzeugen, dass seine künftige Regierung nicht korrupt sein wird.
Bolsonaro, der trotz der Niederlage der eigentliche Gewinner ist, wird Lulas Hauptwählerschaft, die Armen und Bitterarmen, umgarnen. Das machte er am Wahlabend schon klar. Der politische Vorteil liegt nach diesem Sonntag überraschend beim Amtsinhaber. Zumal er in gewisser Weise Recht behielt mit der Kritik an den Meinungsumfragen, die er als gefälscht und politisch motiviert bezeichnete.
Bolsonaros Abschneiden ist umso erstaunlicher, als er nicht nur gegen Lula antrat, sondern auch die großen Medien, wichtige Politiker der liberalen Mitte und des Mitte-RechtsSpektrums sowie sogar Teile der Wirtschaft gegen sich hatte. Man muss fürchten, dass ihm eine Öffnung zur Mitte weitere Stimmen bringen könnte. Zudem muss Lula beunruhigen, dass Bolsonaros Partei PL bei den gleichzeitigen allgemeinen Wahlen viele Bewerber in Abgeordnetenhaus und Senat bringen konnte. Auch viele Gouverneure stellt seine Partei künftig. All diese Gewinner werden in den kommenden vier Wochen mächtig für Bolsonora werben.
Ein weiterer Grund für seine hohe Stimmenzahl könnte der Vormarsch
der erzkonservativen Pfingstkirchen in den vergangenen Jahren sein, die massiv Werbung für Bolsonaro gemacht haben. Diese evangelikalen Kirchen sind inzwischen auch tief in die armen Bevölkerungsschichten eingedrungen.
Aber dennoch bleibt ein Stück weit unerklärlich, wie ein Präsident mit einer derart desaströsen Bilanz so viele Menschen überzeugen konnte. Bolsonaro hat wiederholt mit einem Staatsstreich kokettiert, er hat Richter des Obersten Gerichtshofs, Frauen, indigene Völker und Journalisten beleidigt, hat eine Kampagne gegen Corona-Impfstoffe geführt, während fast eine Dreiviertelmillion Brasilianer an Covid starben. Und er
hat das Amazonasgebiet der Gnade von Großgrundbesitzern und Goldgräbern ausgeliefert.
Mitentscheidend für den 30. Oktober wird sein, ob es Bolsonaro gelingt, seine hohe Ablehnungsrate in der Bevölkerung zu verringern. Laut Umfragen würden 52 Prozent der Brasilianer niemals für den Amtsinhaber stimmen. Bei Lula liegt die Ablehnungsquote bei 40 Prozent.
Hätte vor Sonntag noch jemand daran gezweifelt, dass Brasilien ein völlig gespaltenes Land ist, dem diente das Wahlergebnis als letzter Beweis. Fast hälftig stehen sich die Brasilianer weitgehend unversöhnlich mit zwei völlig diametralen Visionen ihres Landes gegenüber. Zudem
ist Brasilien regional gespalten. Der PT-Herausforderer siegte im armen Nordosten und auch in weiten Teilen des Amazonas. Aber im europäisch geprägten Süden und vor allem im Industrie- und Finanzzentrum São Paulo sowie in der Metropolregion Rio de Janeiro gewann Bolsonaro.
Die gute Nachricht des Wahltages ist, dass es weitgehend ruhig blieb und dass Bolsonaro nicht die Legitimität des Ergebnisses in Frage stellte. Vielmehr zog er wie ein ganz normaler Politiker seine Schlüsse aus den Resultaten. Nach einem langen und erbittert geführten Wahlkampf, der von schwerer politischer Gewalt geprägt war, ist das immerhin ein kleiner Gewinn für die Demokratie.