„Sascha“kann im Saarland durchatmen
Ukrainischer Weltklasseringer Khotsianivski findet mit seiner Familie an der Neuberger-Sportschule Unterschlupf.
KÖLLERBACH Er feuert an, fiebert mit, ruft unterstützende Anweisungen auf die Matte – Freistil-Schwergewichtler Aleksander Khotsianivski fieberte am vergangenen Samstag beim Spitzenkampf der RingerBundesliga Gruppe West zwischen dem ASV Mainz und dem KSV Köllerbach mit den Gästefans. Am Ende siegten zwar die Gastgeber, doch für „Sascha“waren es zweieinhalb Stunden Ablenkung von einem Alltag aus Krieg, Tod und Angst.
Denn der Ukrainer, der in der an diesem Samstag beginnenden Rückrunde (der KSV Köllerbach tritt in Witten an) in der Klasse bis 130 Kilogramm für die Saarländer auf die Matte gehen wird, war erst wenige Tage zuvor aus der Hauptstadt Kiew ins Saarland gekommen. „Nichts ist mehr wie früher“, erzählt der freundliche Riese mit traurigen Augen: „Früher hat man sich ins Flugzeug gesetzt und war drei Stunden später da. Jetzt bin ich die 3500 Kilometer mit dem Auto gefahren.“
Mit dabei hat der 32-Jährige seine Frau und seine kleine Tochter. Die drei werden bis zum Ende des Jahres an der Hermann-Neuberger-Sportschule im Saarbrücker Stadtwald leben. „Ohne sie hierherzukommen, wäre unvorstellbar gewesen“, betont der Weltklasse-Athlet: „Ich hätte sie nie zurückgelassen.“
Und schon ist er in Gedanken bei Freunden und Familie, die nicht das Glück haben, als Leistungssportler das vom russischen Angriffskrieg gebeutelte Land verlassen zu dürfen. „Meine Mutter lebt in Donezk. Ich
versuche, täglich telefonisch mit ihr Kontakt zu halten, aber das geht nicht immer. Und dann mache ich mir natürlich große Sorgen.“
Terror und Schrecken, die im Osten des Landes begonnen hatten, sind längst in der Hauptstadt angekommen. „Das ist nicht so, wie wenn Feueralarm ist – und wenn das Feuerwehrauto vorbeigefahren ist, machst du einfach weiter. Kiew hat eine Luftabwehr, aber immer häufiger kommen Raketen oder Droh
nen durch. Wenn der Alarm kommt, müssen alle in die Keller. Oft für Stunden. Man versucht zwar, sich daran zu gewöhnen und so normal wie möglich weiterzumachen. Aber das ist halt nicht möglich, wenn ein Haus neben einem Kindergarten plötzlich in Schutt und Asche liegt.“
Viele Menschen hätten Angst, berichtet Khotsianivski, manche würden aus Trotz aber auch nicht mehr in die Schutzräume gehen. „Anfangs haben wir in der Hauptstadt ge
dacht, dass der Krieg weit weg ist. Vor allem in den letzten Wochen ist er ganz massiv bei uns angekommen. Man kann sich nicht mehr frei bewegen. Es gibt Sperrstunden und Stromsperren.“
Die ukrainische Regierung versucht dennoch, ihre Top-Athleten wie Ringer Khotsianivski weiter zu unterstützen. Trainingslager im Ausland sind aber aufwändig geworden. Seitdem die Flugverbindungen gekappt sind, müssen weite Strecken mit dem Bus zurückgelegt werden, wie bei den jüngsten Maßnahmen in Polen und Italien. Auch eine Einladung des US-Ringerverbandes an die ukrainische Nationalmannschaft liegt vor, die Organisation hat begonnen.
Doch vorerst ist Khotsianivski „Saarländer“. „Ich bin froh, hier mit meiner Familie durchatmen zu können“, sagte Khotsianivski: „Zumal Köllerbach für mich ja mittlerweile zur Familie geworden ist, und ich hier optimale Trainingsbedingungen habe.“Denn die Verantwortlichen haben aus der tragischen Situation das Beste gemacht. Khotsianivski trainiert an der Sportschule gemeinsam mit dem saarländischen Olympia-Teilnehmer Gennadij Cudinovic vom Zweitligisten AC Heusweiler. „In unserer Gewichtsklasse einen geeigneten Trainingspartner zu finden, ist sehr, sehr schwer“, sagte der gut 120 Kilo wiegende Ukrainer und betont dabei das Wort „schwer“ganz besonders. Seinen angenehmen Humor hat er trotz der Schrecken des Krieges nicht verloren.
„Konkurrenz ist gut für das Geschäft. Es ist also für uns beide eine gute Sache. Genna hat durch das Training mit Andrij Shyyka enorme Fortschritte gemacht. Es ist für die Weiterentwicklung sehr wichtig, auch im Training immer auf höchstem Niveau gefordert zu werden. Das gilt so natürlich auch für mich, und darum freue ich mich auf die kommenden Wochen“, sagte Khotsianivski. Zumal beide auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten: die Olympischen Spiele 2024 in Paris.
Ende Dezember soll Khotsianivski in die Heimat zurückkehren. Dass er das tut, steht für ihn aktuell außer Frage. „Es ist meine Heimat“, sagte der Ukrainer: „Aber leider kannst du nicht mehr langfristig planen. Man muss versuchen, aus jedem Tag das Beste herauszuholen.“Und das ist nicht einfach nur dahingesagt.
„Man muss versuchen, aus jedem Tag das Beste herauszuholen.“Ringer Alexander Khotsianivski über den Krieg in seiner Heimat Ukraine