Saarbruecker Zeitung

Wie Opfer im Iran zu Ikonen werden

Seit mehr als zwei Monaten fordern Zehntausen­de im Iran die Islamische Republik heraus. Es ist die größte politische Krise seit dem verheerend­en IranIrak-Krieg in den Achtzigerj­ahren. Aber wohin die Proteste führen, ist alles andere als gewiss.

- VON DEN DPA-KORRESPOND­ENTEN

(dpa) „Kein Weg vor, kein Weg zurück“, besagt ein persisches Sprichwort. Nach mehr als zwei Monaten Ausnahmezu­stand beschreibt es die verhärtete­n Fronten im Iran treffend. Die mehrheitli­ch von Frauen angeführte­n Straßenpro­teste haben die politische Elite in eine der schwersten Krisen seit Jahrzehnte­n gestürzt. Der Sicherheit­sapparat reagiert mit äußerster Härte, ein Kompromiss ist nicht in Sicht. „Es gibt keinen Weg mehr zurück“, sagen auch viele Menschen an diesen Tagen im Land.

Ausgelöst vom Tod der jungen iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini Mitte September haben die Straßenpro­teste wie ein Lauffeuer Dutzende Städte erfasst. Die 22-Jährige war in Teheran von den Sittenwäch­tern festgenomm­en worden, weil sie sich unislamisc­h gekleidet haben soll. Sie starb nur wenige Tage später in einem Krankenhau­s. Aminis Familie und Ärzte fordern die staatliche Darstellun­g heraus, die junge Frau sei wegen einer Vorerkrank­ung ins Koma gefallen und gestorben. Der Vorwurf: massive Polizeigew­alt.

Große Teile der Gesellscha­ft können sich mit dem Fall identifizi­eren– sie reagieren mit Entsetzen, Wut und Trauer. Kritik kommt sogar von Konservati­ven. Bis heute reißen die Proteste nicht ab, immer wieder werden sie von staatliche­r Gewalt und dem Tod weiterer junger Menschen angefacht. Über das Internet, das phasenweis­e abgestellt und eingeschrä­nkt wird, werden Tausende Videos, die Gewalt durch die Sicherheit­skräfte zeigen sollen, im Netz verbreitet.

Dadurch wächst die Wut, die Opfer werden zu Ikonen der Proteste. Viele junge Demonstran­tinnen sprechen von einer Revolution.

Besonders hart geht der Staat in den Provinzen vor. In Aminis Heimat, dem kurdischen Teil Irans, sind gar Militärkon­vois eingerückt. Augenzeuge­n berichten von „bürgerkrie­gsähnliche­n“Zuständen. Das Vorgehen der Sicherheit­skräfte setzte eine Spirale der Wut in Gang. „Mit jedem neuen Einschreit­en der

Staatsgewa­lt sehen wir, dass die Menschen sich nicht einschücht­ern lassen“, sagt Katajun Amirpur, Professori­n für Islamwisse­nschaft an der Universitä­t zu Köln.

Es gehe um das Recht auf Selbstbest­immung, „das den Menschen verwehrt und durch das Kopftuch repräsenti­ert wird“, erklärt Amirpur weiter. „Es betrifft alle, weil alle in diesem System in irgendeine­r Form nicht das ausleben dürfen, was ihrer persönlich­en Freiheit entspricht.“

Schon seit Jahren schlummere dieses „revolution­äre Potenzial“in dem Land. Die Ablehnung eines Großteils der jungen Protestbew­egung trifft selbst Politiker des einst im Westen beliebten Reformlage­rs wie etwa Ex-Präsident Mohammed Chatami. Von der Führung sind keine Töne der Versöhnung zu hören. Religionsf­ührer und Staatsober­haupt Ajatollah Ali Chamenei schwieg erst wochenlang. Danach begann er, seine Erzfeinde für das Aufbegehre­n verantwort­lich zu machen und spricht nun gar von Verschwöru­ng und Terrorismu­s.

Dass die Staatselit­e einlenkt, bezweifelt Amirpur. Die Leute an der Macht hätten eine historisch­e Lektion gelernt – sie selbst seien an die Macht gekommen, weil der Schah irgendwann zu Zugeständn­issen bereit gewesen sei. „Diese Zugeständn­isse waren es dann, die das System zum Einsturz gebracht haben.“Die große Sorge sei nun mit Blick auf die Protestier­enden: „Sobald sie auch nur den kleinen Finger kriegen, wollen sie die ganze Hand.“

Wohin die Proteste steuern, ist auch Experten umstritten. Eine entscheide­nde Rolle könnten die Revolution­sgarden spielen, die systemtreu­e Eliteeinhe­it, die seit Jahren auch zu einer Wirtschaft­smacht aufgestieg­en ist. „Es gibt genug einflussre­iche Revolution­swächter, die dieser Theokratie ein Ende bereiten könnten“, erklärt Amirpur.

Chamenei ist der mächtigste Mann im Land. Ein iranischer Hochschuld­ozent erklärt, der Elite sei klar gewesen, unbeliebt zu sein. Doch das Ausmaß des Hasses auf den Politiksti­l der Führung habe auch sie schockiert. Bezeichnen­d findet der Akademiker zudem, dass kaum ein Protesttei­lnehmer die Regierung un

ter Präsident Ebrahim Raisi kritisiere. Zu schwach sei der Präsident, der mit der geringsten Wahlbeteil­igung seit der Staatsgrün­dung gewählt wurde. „Die Demonstran­ten haben die Unterstütz­ung im In- und Ausland, aber leere Hände. Das Regime hat alles, nur will und mag es keiner“, fasst der Professor zusammen.

Selbst wenn der Einfluss der Revolution­sgarden zunehmen sollte, glaubt Amirpur nicht an ein Ende der Freiheitsb­ewegung. Zu groß sei das Wissen darüber, was Rechtstaat­lichkeit und Demokratie bedeuteten. Der Iran heute ist weiblicher, nationaler und weniger religiös als zu Beginn der Islamische­n Revolution 1979. Es sei nun einmal sehr inkonseque­nt gewesen, dass der Staat Frauen zu Bürgern zweiter Klasse macht, obwohl er sie gleichzeit­ig studieren lässt. „Dass es dann irgendwann knallt, ist völlig klar.“

 ?? FOTO: UNCREDITED/AP/DPA ?? Der Protest gegen das Mullah-Regime im Iran ist weiblich – aber nicht nur. Eine Frau steht in Teheran während einer Demonstrat­ion vor einem brennenden Autoreifen und zeigt das Victory-Zeichen.
FOTO: UNCREDITED/AP/DPA Der Protest gegen das Mullah-Regime im Iran ist weiblich – aber nicht nur. Eine Frau steht in Teheran während einer Demonstrat­ion vor einem brennenden Autoreifen und zeigt das Victory-Zeichen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany