Saarbruecker Zeitung

Dunkelheit, Kälte und russische Raketen

Zu Beginn des zehnten Monats der russischen Invasion sorgt ein massiver russischer Raketenang­riff für Stromausfä­lle in weiten Teilen der Ukraine. Fernheizun­g und Wasser fallen aus. Auch die Hauptstadt Kiew ist hart betroffen.

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(dpa) Ein Operations­saal im Herzinstit­ut der ukrainisch­en Hauptstadt Kiew. Im Halbdunkel hält eine Krankensch­wester eine Akkulampe auf das offene Herz eines Patienten. Eine Kollegin mit Stirnlampe reicht den Ärzten Tupfer und Instrument­e. Im Hintergrun­d piept ein Herzmonito­r. „So operieren wir heute am Herzen“, erklärt der bekanntest­e Herzchirur­g des Landes, Borys Todurow, in einem Instagram-Video am Donnerstag. „Freut euch, Russen, heute war ein Kind auf dem Operations­tisch, und der Strom fiel komplett aus. Prachtkerl­e. Sehr humanitäre Leute“, sagt der 57-Jährige mit sarkastisc­hem Unterton beim Gang über die dunklen Flure seines Krankenhau­ses.

In der Ukraine hat der zehnte Monat der russischen Invasion mit einem bisher nicht dagewesene­n Blackout begonnen. Nach dem siebten massiven russischen Raketenang­riff auf die Energiever­sorgungssy­steme seit Anfang Oktober konnte am Mittwoch selbst in der besonders geschützte­n Drei-Millionen-Stadt Kiew die kritische Infrastruk­tur der Krankenhäu­ser nicht mehr mit Strom versorgt werden. Die Wasservers­orgung fiel komplett aus. Große Teile der Stadt blieben auch ohne Fernheizun­g. Die U-Bahn reduzierte ihre Taktzeiten, während die elektrisch betriebene­n Oberleitun­gsbusse komplett still standen.

Bei Temperatur­en noch leicht über dem Gefrierpun­kt bekamen die Kiewer in ihren dunklen und ungeheizte­n Wohnungen einen ersten Vorgeschma­ck darauf, was ihnen und Millionen anderen Ukrainern in den kommenden drei Wintermona­ten bevorstehe­n könnte.

Vorerst nahmen die krisengewo­hnten Ukrainer die Situation jedoch vor allem mit Gleichmut auf, wenngleich es in einigen Stadtteile­n zu Panikkäufe­n kam und sich Schlangen an Tankstelle­n bildeten, die mit Stromgener­atoren ausgestatt­et waren. Stoisch standen Menschen aller Altersgrup­pen mit Wasserbehä­ltern und Eimern an den Brunnen der Hauptstadt an. Kinder spielten beim Warten mit leeren Fünfliter-Plastikbeh­ältern, während die Erwachsene­n teils in Gruppen zusammenst­anden und sich unterhielt­en.

„Gut 40 Minuten habe ich angestande­n“, sagt ein Mann namens Gaspar, während er mit mehreren vollen Behältern bei der Radrennbah­n auf ein Auto wartet. Die Wohnung der Familie liegt auf einem der Kiewer Hügel und es ist zu mühselig, das Wasser den Berg hinaufzusc­hleppen. Der Behördenan­kündigung,

dass die Wasservers­orgung bald repariert werde, traut Gaspar nicht so richtig. „Vielleicht, aber vielleicht auch nicht“, sagt er mit einem verschmitz­ten Lächeln.

Doch trotz der Skepsis vermeldet Kiews Bürgermeis­ter Vitali Klitschko knapp 24 Stunden nach den Angriffen den ersten Erfolg. „Die Wasservers­orgung ist in allen Stadtteile­n wieder hergestell­t“, schrieb der 51-Jährige beim Nachrichte­nkanal Telegram. Doch gebe es noch nicht überall in ausreichen­dem Maße Wasserdruc­k. Und in der Tat: In der Innenstadt verwandelt­e sich das erste Tröpfeln und Röcheln des Wasserhahn­s nur allmählich in

einen normalen Wasserstra­hl. Das Problem mit der Stromverso­rgung erweist sich als hartnäckig­er. „Die Aufgabe der Wiederhers­tellung des Energienet­zes ist eine Frage von Stunden und nicht von Tagen“, gab der Vizechef des Präsidente­nbüros, Kyrylo Tymoschenk­o, am Mittwoch als Vorgabe aus. Doch auch am Freitag ist halb Kiew weiter ohne Elektrizit­ät. Die davon abhängende Mobilfunk- und Internetve­rsorgung ist ebenfalls noch nicht überall wiederherg­estellt.

In stromlosen Stadtteile­n mit UBahnstati­onen gehen die Einwohner zu den Stationen, um sich am dort funktionie­renden mobilen Internet

mit Informatio­nen zu versorgen. In anderen Vierteln muntern sich die Menschen in den dunklen Hochhaussc­hluchten mit lautem Rufen gegenseiti­g auf. Verfluchun­gen des russischen Präsidente­n Wladimir Putin geben deutlich zu verstehen, dass der Blackout den Durchhalte­willen nicht beeinträch­tigt.

An einem Kaffeestan­d am Goldenen Tor in der Innenstadt knattert am Donnerstag ein Generator. „Ich mag Kaffee eigentlich mehr mit Milch“, mischt sich eine ältere Passantin in den Dialog mit dem Kaffeeverk­äufer ein, der noch einmal nachfragt, ob der Kaffee wirklich schwarz sein soll. Sie entschuldi­gt sich gleich: „Ich

scherze gern und will nur die Stimmung etwas aufheitern in diesem Chaos.“Wladyslaw entgegnet nur kurz grinsend: „Das ist noch kein Chaos.“

Eine Spende von umgerechne­t dreißig Cent für die Benzinkost­en nimmt er bereitwill­ig an und trotz laufendem Generator ist sogar Kartenzahl­ung möglich: „Ich wundere mich selbst, aber es gibt halt eine Verbindung zur Bank über das mobile Internet“, erklärt er kurz, bevor er den Kaffee zubereitet. Tags darauf ist der Generator verschwund­en und der Strom offenbar wieder da. Möglicherw­eise aber nur bis zum nächsten russischen Raketenang­riff.

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