Europas Flickenteppich im Umgang mit Corona
Die EU tut sich schwer mit einem koordinierten Ausstieg aus den CoronaAuflagen. Im EU-Parlament gibt es nun den Aufruf, dem Beispiel der USA zu folgen und die Pandemie für beendet zu erklären.
Anderthalb Jahre liegt der Vorsatz der EU zurück, die Schritte zur Lockerung der Corona-Maßnahmen gemeinsam zu gehen. Davon ist wenig geblieben. Der Flickenteppich in Deutschland mit fünf von 16 Bundesländern ohne Isolationspflichten findet sich auch in der EU, wo acht von 27 Nationen Erkrankte nicht mehr zur Isolierung zwingen. Weil sie damit nicht schlechter fahren als die anderen Mitgliedsländer, ruft nun der Gesundheitsexperte der Union im Europa-Parlament, Peter Liese, die Kommission auf, ihre Empfehlung zu überarbeiten und ein ähnlich starkes Signal zu setzen wie jüngst US-Präsident Joe Biden, als dieser verkündete: „Die Pandemie ist vorbei.“
Die dürftige bis fehlende Absprache erleben alle Reisenden, die in einem der Nachbarländer in den Zug steigen und nach Deutschland fahren. Beim Passieren der Grenze fordert das Personal die Passagiere auf, die FFP-2-Masken anzulegen. Selbst nachts in leeren Abteilen wird die Maskenpflicht streng durchgesetzt und mitunter sogar mit dem Rauswurf des einsam Reisenden gedroht. Dagegen haben die Nachbarn Deutschlands die Pflicht in eine Empfehlung verwandelt: Wenn es in geschlossenen Räumen eng werde, also besonders in Pendler-Stoßzeiten in Bussen und Bahnen, möge man die Maske aufsetzen.
Auch Liese unterstützt die gerade bis zum 7. April nächsten Jahres ver
längerte Maskenpflicht in Fernzügen als Grundschutz. Die FFP-2-Variante hält er aber für nicht nötig angesichts der Vorschriften, die den gesamten Luftverkehr von der Maskenpflicht ausnehmen und die Regelungen im Öffentlichen Nahverkehr den Ländern und Kommunen überlassen.
Für seine Forderung an EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakidis hat sich der EVP-Abgeordnete mit den jüngsten Statistiken präpariert. Danach hat Corona seine Gefährlichkeit verloren. Anfangs seien zwar im Vergleich zur aktuellen Ansteckungsrate weniger erkrankt, sie seien aber durch eine dreiprozentige Sterblichkeit bedroht gewesen, über 80-Jährige sogar durch eine zehnprozentige. Damit sei das Corona-Virus
wesentlich gefährlicher als das Grippe-Virus gewesen, zumal es auch keine Impfungen und Medikamente gegeben habe. Heute sei die Impfquote weit fortgeschritten, und obwohl sich viel mehr Menschen infizierten, betrage die Sterblichkeit nur noch ein Zehntel der ursprünglichen Werte und sei damit auf dem Niveau einer Influenza angekommen.
Rumänien, Polen, Österreich, Litauen, Finnland, Schweden, Spanien und Portugal haben die Pflicht zur Isolation für Infizierte abgeschafft. Auf das Infektionsgeschehen scheint das keine Auswirkungen zu haben.
Schweden meldet eine Inzidenz von 39 Infektionen je 100 000 Einwohnern in den letzten sieben Tagen, Rumänien 13, Polen sechs. Dagegen gibt es in Ländern mit Isolationspflichten eine deutlich höhere Inzidenz, wie 350 in Frankreich, 353 in Italien oder 520 in Griechenland. Deutschland mit Isolationspflicht in elf von 16 Bundesländern liegt aktuell bei 190.
Frankreich hat bereits im August den „gesundheitspolitischen Notstand“für beendet erklärt. Allerdings hält das Land noch an der Isolationspflicht fest und unterscheidet die Vorgabe nach dem Impfstatus. Wer vollständig geimpft ist, muss sich sieben Tage komplett isolieren, kann nach negativem Test aber schon wieder nach fünf Tagen unter die Leute, wer nicht geimpft ist, muss zehn Tage in die Isolation.
Die von der EU geschaffenen einheitlichen Impfzertifikate mit einer Gültigkeitsdauer von 270 Tagen sind derzeit ohne Belang. Kein EU-Staat verlangt bei der Einreise noch Nachweise. Ausnahmen gelten theoretisch für Reisende aus Virusvariantengebiete. Aber es gibt derzeit amtlich festgelegt keine mehr, obwohl das Virus in immer neuen Varianten um den Globus zieht. Am Beispiel von NRW äußert Liese einen brisanten
Verdacht über den Hintergrund der aktuellen Expertendiskussion in Deutschland. NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann habe die Isolationspflicht zwar von zehn auf fünf Tage gesenkt, schrecke vor weiteren Lockerungen jedoch zurück, weil er mit den Empfehlungen des Robert-Koch-Institutes bislang gut gefahren sei, analysiert Liese. Eine Nachfrage beim RKI ergebe dann jedoch lediglich den Verweis auf das Gesundheitsministerium. Unter sämtlichen früheren Gesundheitsministern habe das RKI unabhängig arbeiten können, nun gebe es aber viele, die sagten, unter Karl Lauterbach sei das nicht mehr möglich, berichtet Liese.
Es sei bekannt, dass Minister Lauterbach an Sitzungen der Ständigen Impfkommission teilnehme, um seine Auffassung zu vertreten. „Es gibt Anzeichen, dass es beim RKI nun genauso ist“, so Liese. Deshalb forderte er in einem offenen Brief den Bundesgesundheitsminister auf, „evidenzbasiert“zu handeln. Vor allem die Isolationspflicht und die Lüftungsvorgaben an den Schulen im Winter nimmt der CDU-Politiker und Arzt ins Visier. Wer sich krank fühle bei einer Infektion, müsse zu Hause bleiben. Wer aber gesund sei, müsse auch weiter arbeiten dürfen. Das gelte für die angespannte Situation in Krankenhäusern genauso wie für das Zugpersonal. Und auch die Schüler müssten im Unterricht nicht frieren. In den Pausen zu lüften, reiche inzwischen vollkommen aus.
Trotz der Forderung nach weiteren Lockerungen empfiehlt Liese weiter zur Vorsicht. Es sei nicht ausgeschlossen, dass jede Infektion auch mit dem Risiko von Long Covid verbunden werden könne. Zudem plädiert er weiter fürs Impfen und Boostern. Der Anteil der schwer Erkrankten sei bei Ungeimpften drei bis vier Mal höher als bei Geimpften.