Er schaffte als Nichtschüler das Abitur
Wie ist das, von einem geliebten Menschen Abschied nehmen zu müssen? Die SZ spricht mit Angehörigen und Freunden und stellt in einer Serie Lebenswege Verstorbener vor. Heute: Josef Gillet.
Mit 83 Jahren ist Josef Gillet am 27. November 2000 gestorben, vor 22 Jahren. Heilt die Zeit wirklich alle Wunden, wie es immer heißt? „Nur bedingt“, sagen Sohn Bernd Gillet, Schwiegertochter Martina und Enkel Boris Gillet. Denn auch heute noch bleiben neben dankbaren Erinnerungen und der Freude über ein erfülltes Leben selbstkritische Fragen wie: „Hätte man ihm mehr beistehen können? Müssen?“Wie auch immer, Josef Gillet war ein bemerkenswerter Mensch, in vielerlei Hinsicht.
Geboren wurde er am 8. Oktober 1917 in Püttlingen als zweiter von drei Söhnen des Ehepaars Peter Gillet, Bergmann und Bergmannbauer, und Katharina, geborene Boßmann. Wegen des frühen Silikose-Todes des Vaters und bescheidener finanziel
ler Verhältnisse war dem begabten Jungen der Besuch des Gymnasiums nicht möglich. Mit 14 Jahren begann er als Hüttenarbeiter im Stahlwerk Völklingen. Mit 21 Jahren wurde er Chemielaborant. Ein Jahr später bestand Josef Gillet als „Nichtschüler“(Externer) das Abitur. Sohn Bernd Gillet erklärt dazu: „Papa hat sich den Stoff selbst beigebracht.“
Den Zweiten Weltkrieg erlebte Josef Gillet mit 25 Jahren als Kampfflieger und Navigationslehrer mit 105 Front- und 87 Feindflügen in Russland, danach in englischer Kriegsgefangenschaft. 1945/46 besuchte er das Lehrerseminar in Saarbrücken, wurde danach Lehrer und Rektor an verschiedenen saarländischen Volksschulen. Aus der 1941 geschlossenen Ehe mit Gertrud (gestorben 1986) sind sechs Kinder, acht Enkel und elf Urenkel hervorgegangen.
Zwischen seinem 39. und 44. Lebensjahr studierte Gillet neben seiner Arbeit an der Schule an der Universität des Saarlandes mit erfolgreichem Abschluss des Magisterexamens für Erziehungswissenschaften, Wirtschafts- und Sozialgeschichte.
Er machte sich als nebenamtlicher Dozent an der Pädagogischen Hochschule des Saarlandes und der Fachhochschule für Sozialwesen einen Namen. Bis dahin schon ein beeindruckendes Lebenswerk, dem aber noch ein gewichtiges Kapitel fehlt: Schon als 29-jähriger Junglehrer an der Sellerbacher Volksschule entdeckte Gillet nach einer Begegnung mit dem bekannten Heimatforscher Professor Pfarrer Karl Rug seine Leidenschaft für die Heimatforschung. Schwerpunkt wurde sein Heimatort: „Er hat gebrannt für Püttlingen“, sagt die Schwiegertochter. Mindestens
über 20 Jahre, wenn nicht länger, veröffentlichte Josef Gillet mit Mitstreitern im „Förderkreis Denkmalpflege“den Heimatbrief für Püttlingen und Köllerbach. Es war eine Vierteljahresschrift für „Landschaft, Umwelt, Geschichte, Kunst, Volkskunde, Wirtschaft, Regionalgeschehen und Denkmalpflege“mit meist von ihm (auf der Reiseschreibmaschine) verfassten Artikeln über regionalgeschichtliche Themen. Oft waren diese recherchiert in Archiven in Metz, Koblenz, Neuwied, Trier und Saarbrücken. Die Edition der Quellenbücher zur Geschichte der Herrschaft Püttlingen vollendete Gillet nach einem halben Jahrhundert Recherche im Ruhestand. Insgesamt 17 prall gefüllte Bände wurden es, mit einem Umfang zwischen 300 und 1000 Seiten, wieder auf seiner Reiseschreibmaschine verfasst.
Wie „nebenbei“trat Josef Gillet noch als Autor von Schulbüchern für die Fächer Heimat- und Erdkunde in Erscheinung. Er wurde nach der Stadtwerdung 1968 Gründungsmitglied im Heimatkundlichen Verein und leitete darüber hinaus viele Jahre lang den Heimat- und Verkehrsverein Püttlingen als Vorsitzender. Doch ab dem 70. Lebensjahr musste Josef Gillet Krankheiten bekämpfen.
Eine OP am offenen Herzen und ein Bypass konnten ihm zunächst noch einmal zu neuem Lebensglück verhelfen. Am 8. Oktober 2000 feierte er auch noch im Kreis seiner Familie seinen 83. Geburtstag. Wenige Tage darauf vermissten seine Schwiegertochter Martina und Sohn Bernd Gillet ihren zwölfjährigen Sohn Boris. Zudem war Großvater Josef Gillet telefonisch nicht erreichbar. Schließlich wurde Boris bei diesem angetroffen, wie er fest die Hand seines schwerkranken Opas hielt und daher nicht ans Telefon gehen konnte.
Nach nochmals kurzfristigem Aufflammen der Lebensgeister schlief Josef Gillet in der Klinik Püttlingen friedlich ein. Enkel Boris Gillet sagt im Rückblick: „Das kann man als Kind nur schwer verstehen, wenn der Opa, der immer so intelligente Gespräche mit uns geführt hat und sich auch zum Fußballspielen nie zu schade war, krank wird und schließlich stirbt.“
Was wenige wissen: „Inspiriert durch seine Liebe zur Heimat, die harte Hüttenarbeit, seine Schüler und Studenten, die Kirche, die Familie und insbesondere den Krieg und die damit verbundene lange Trennung von seiner Familie schrieb Gillet seit seiner Jugend bundesweit anerkannte Gedichte“, so heißt es im Nachruf. Hier ein Auszug aus seinem Gedicht mit dem Titel „Köllertal“: „Heimat, wir sind deine Kinder, wir Bergleute, Bauern, Männer, Frauen. Du hast uns schon im Wiegenschlafe dein Wesen tief ins Blut geraunt. Und deine Seele, deinen Glauben, deine Sitte, deinen Brauch. Du hast uns Kind um Kind geboren, sie alle atmen deinen Hauch.“