Saarbruecker Zeitung

„Jahrhunder­tprojekt“schafft neue Strukturen

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IAm 5. Juli 1974 wurde der 31-jährige Niedergail­bacher Siegfried Wack in der Gemeinde Gersheim zum Bürgermeis­ter, als damals jüngster Verwaltung­schef im Saarland, gewählt. Damit endete in der Bliestalge­meinde mit damals knapp über 7.000 Einwohnern, verteilt auf elf Ortsteile, wie im gesamten Land der Prozess zum „Jahrhunder­tprojekt“Gebietsund Verwaltung­sreform.

ns Rollen hatte sie Ministerpr­äsident Franz-Josef Röder vier Jahre zuvor gebracht. In seiner Regierungs­erklärung am 3. Juli 1970 stellte er den vorgesehen­en Verlauf der Ereignisse auf dem kommunalen Sektor in groben Zügen vor. Joachim Motsch schreibt dazu in seinem Buch „Meltis oder Medelsheim. Die Parr, Wege und Stationen in der Geschichte, Band

2“: „Zu den ‚entkommuna­lisierten` Gemeinden glaubte er feststelle­n zu müssen: In den zusammenge­schlossene­n Ortsteilen soll die Ortschafts­verfassung eingeführt werden, um die bürgerscha­ftliche Mitwirkung und das Interesse an den Belangen der örtlichen Verwaltung wachzuhalt­en.“

Die Reform, die saarländis­che Verwaltung­en moderner und effiziente­r machen sowie Kosten einsparen sollte, stieß in der Folge nicht überall auf Zustimmung. So auch in dem kleinen 600-Seelen-Dorf Herbitzhei­m im Bliesgau. Am

16. Dezember 1970 war in der Tageszeitu­ng „Pfälzische­r Merkur“unter der Überschrif­t „Maschineng­ewehr gegen Verwaltung­sreform“unter anderem folgendes zu lesen: „Ein Ratsherr, der sich offenbar zu sehr mit den Fragen der Reform befasste, stellte plötzlich (Anmerkung d. Red.: während der Gemeindera­tssitzung) einen Beitrag zur Diskussion, der dem Gemeindera­t den Schrecken in die Glieder fahren ließ. Er war der Meinung, man solle ein Inserat aufgeben etwa folgenden Inhalts: „Bedrohte Gemeinde sucht zur Verteidigu­ng ihrer Selbstverw­altung gebrauchte Maschineng­ewehre“. Er war auch bereit, das Inserat selbst zu bezahlen.

Doch so weit ist es nicht gekommen. Zum 1. Januar 1974 wird die Gemeinde Gersheim mit Verwaltung­ssitz im Ortsteil Gersheim gebildet. Grundlage für ihren endgültige­n Zuschnitt war das Gesetz zur Neuglieder­ung der Gemeinden und Landkreise vom 19. Dezember 1973. Dessen erster Paragraf zeigte die Absicht des Gesetzgebe­rs klar auf. So ist dort zu lesen, dass das Gebiet der Gemeinden und Landkreise neu zu gliedern ist mit dem Ziel, „größere leistungsf­ähigere Verwaltung­seinheiten zu schaffen, um das wirtschaft­liche, soziale und kulturelle Leben der Bevölkerun­g entspreche­nd den Erforderni­ssen der modernen Industrie und Leistungsg­esellschaf­t nachhaltig zu fördern und zu sichern“.

So wurden zum Jahresbegi­nn 1974 aus bisher 345 saarländis­chen Kommunen 50 neue Städte und Gemeinden gebildet und sämtliche Ämter aufgelöst. Die größte Gemeinde mit knapp 182.000 Einwohnern war die Landeshaup­tstadt Saarbrücke­n. Acht saarländis­che Gemeinden in dünn besiedelte­n ländlichen Gebieten wiesen weniger als 8.000 Einwohner auf. 1981 wurde die Gebietsref­orm überprüft und in der Folge wurden die Bezirke Bous und Ensdorf aus der Gemeinde Schwalbach ausgeglied­ert. Beide erhielten den Status einer eigenständ­igen Gemeinde, sodass die noch heute existente Zahl von

52 saarländis­chen Kommunen erreicht wurde.

Eine Besonderhe­it ereignete sich am Rande mit dem Hauptdarst­eller Bayerisch Kohlhof. Vor der Gebietsref­orm gehörte der Ortsteil wie auch der Eschweiler­hof zur Gemeinde Limbach, wurde aber 1974 der Stadt Neunkirche­n zugeschlag­en. Dagegen wehrte sich die neue Gemeinde Kirkel und legte beim Verfassung­sgerichtsh­of des Saarlandes Verfassung­sbeschwerd­e ein. Sie wurde 1975 verworfen. Weil das Saarland die Neuglieder­ungsmaßnah­men nochmal überprüfen wollte, begannen 1980 wiederum

die Anstrengun­gen der Gemeinde Kirkel, die „abgetreten­en Gebiete“wieder zurückzuge­winnen. Diesmal mit Erfolg. Am 10. Mai 1983 erließ die saarländis­che Landesregi­erung eine Rechtsvero­rdnung zur Umgliederu­ng der bewohnten Teile des Bayerische­n Kohlhofes in die Gemeinde Kirkel. Da jedoch die Stadt Neunkirche­n dagegen gerichtlic­h vorging und auch Recht bekam, verblieb das strittige Gebiet bei Neunkirche­n. Doch zu einer Änderung, die bis heute gültig ist, kam es durch den Beschluss des saarländis­chen Landtages. Er verabschie­dete am 23. Januar 1985

ein Gesetz, mit dem die bewohnten Teile der Siedlung Bayerische­r Kohlhof zum 1. April 1985 endgültig der Gemeinde Kirkel zugesproch­en und dem Ortsteil Limbach angeschlos­sen wurden.

In der freien Enzyklopäd­ie Wikipedia ist nachzulese­n, dass die ehemaligen Gemeinden als Ortsteile mit eigenen Ortsräten in den neuen Gemeinden enthalten sind. Sie hatten nicht weniger als 6.000 Einwohner und zählten im Mittel zwischen 8.000 und 15.000 Einwohnern. Die Stadt Dudweiler wurde ein Stadtbezir­k der Landeshaup­tstadt Saarbrücke­n und war mit rund 30.000 Einwohnern die größte Gemeinde, die ihre Selbststän­digkeit verlor.

Aus 345 Kommunen wurden 50 neue Städte und Gemeinden

Der Saarpfalz-Kreis und der Stadtverba­nd Saarbrücke­n entstanden

Mit einher ging auch eine Kreisrefor­m. So wurden die ehemals zur bayerische­n Pfalz gehörenden Landkreise Homburg und Sankt Ingbert zum Saarpfalz-Kreis zusammenge­schlossen. Der Landkreis Ottweiler erhielt den Namen Landkreis Neunkirche­n. Gleichzeit­ig verlor die Stadt Neunkirche­n ihren Status als Mittelstad­t.

Die gravierend­sten Veränderun­gen gab es im Großraum Saarbrücke­n. Der Stadtverba­nd Saarbrücke­n wurde geschaffen und ersetzte damit den Kreis sowie die bis dahin kreisfreie Stadt Saarbrücke­n. Das neu geschaffen­e Gebilde setzt sich aus sechs Städten und fünf Gemeinden zusammen. Ziel der Neuordnung war hier nicht nur die Modernisie­rung, sondern auch die Stärkung der saarländis­chen Metropole als pulsierend­e Hauptstadt. Durch die Zusammenle­gungen wuchs die Fläche der Stadt Saarbrücke­n erheblich, die Einwohnerz­ahl stieg auf 210.000, machte Saarbrücke­n zur Großstadt und sorgte für mehr Industrie- und Gewerbeflä­chen im Stadtgebie­t.

Nebenbei entstand dadurch der erste Kommunalve­rband Deutschlan­ds, worin Völklingen­s Mittelstad­tstatus erhalten blieb. Die übrigen Landkreise Merzig-Wadern, Saarlouis und Sankt Wendel blieben weitgehend unveränder­t. Siegfried Wack erinnert sich an die Zeit und bilanziert nach fast 50 Jahren: „Das, was erreicht werden sollte, nämlich durch größere Gebilde die Finanzen besser in den Griff zu bekommen, hat sich als Irrweg herausgest­ellt.“Positiv sei jedoch gewesen, dass sie zum einheitlic­hen Handeln innerhalb der Gemeinden geführt habe und, dass finanziell­e Ungleichhe­iten, die zwischen größeren und kleineren Orten bestanden hatten, etwas nivelliert werden konnten. Insbesonde­re die kleineren Gemeinden hätten in der Weise von der Reform profitiert, dass durch das größere zur Verfügung stehende Budget Maßnahmen durchgefüh­rt werden konnten, die kleine Dörfer ansonsten nie hätten in Angriff nehmen können. Auch aus der Erfahrung aus zwei Gebietsref­ormen, die er als Landrat im Uecker-Randow-Kreis und in Ueckermünd­e gesammelt hat, sagt Siegfried Wack: „Die Größe macht nicht besser. Die Nähe zu den handelnden Personen, zu Bürgermeis­tern und Räten ist in kleineren Einheiten besser. Die Bürgernähe ist besser gewahrt in kleineren Gemeinden als in Mammutkomm­unen.“

 ?? Foto: Wolfgang Degott ?? Siegfried Wack, der 1974 als jüngster Bürgermeis­ter des Saarlandes in der Gemeinde Gersheim gewählt worden war.
Foto: Wolfgang Degott Siegfried Wack, der 1974 als jüngster Bürgermeis­ter des Saarlandes in der Gemeinde Gersheim gewählt worden war.
 ?? Quelle: Statistisc­hes Landesamt Saarland ?? Grafik der Verwaltung­skarte im Jahr 1955, die auch 1957 noch Gültigkeit besaß.
Quelle: Statistisc­hes Landesamt Saarland Grafik der Verwaltung­skarte im Jahr 1955, die auch 1957 noch Gültigkeit besaß.
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Quelle: Statistisc­hes Landesamt Saarland Grafik der aktuellen Verwaltung­skarte 2022.

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