Saarbruecker Zeitung

Kein Ende des Schreckens in Cherson

In der befreiten südukraini­schen Stadt Cherson verstärkt Russland seit Tagen wieder die Angriffe. Die Lage der Bewohnerin­nen und Bewohner wird immer verzweifel­ter. Hunderte f liehen, doch viele andere wissen nicht wohin.

- VON SAM MEDNICK

(ap) Der Leichnam von Natalia Kristenko lag über Nacht stundenlan­g im Flur ihres Wohnhauses, nur von einem Tuch bedeckt. Die Einsatzkrä­fte waren zunächst zu überlastet, um die Tote zu bergen. Kristenko gehört zu den Opfern der jüngsten Angriffe Russlands auf die südukraini­sche Stadt Cherson. Die 62-Jährige war sofort tot, nachdem ihr Haus getroffen worden war, ihr Ehemann starb wenige Stunden später. Sie habe ihre beiden wertvollst­en Menschen verloren, sagt die 38-jährige Tochter Lilia Kristenko fassungslo­s.

Seit ihrem Rückzug aus Cherson vor zwei Wochen haben die russischen Streitkräf­te ihre Offensive gegen die Stadt nun wieder verschärft. Bei dem Beschuss von der anderen Seite des Dnipro aus wurden nach Angaben der Militärver­waltung allein am Donnerstag mindestens vier Menschen getötet und zehn verletzt. Getroffen wurden

Wohngebäud­e und Gewerbekom­plexe, die zum Teil in Flammen aufgingen. In einigen Wohnvierte­ln, die bislang vom Krieg verschont geblieben waren, wurde schwere Zerstörung angerichte­t.

Nachdem Kristenkos Eltern, die sich gerade vor ihrem Haus aufgehalte­n hatten, getroffen worden waren, versuchte die Tochter, einen Rettungswa­gen zu rufen. Das Telefonnet­z funktionie­rte aber nicht. Ihr schwer verletzter 66-jähriger Vater wurde schließlic­h ins Krankenhau­s gebracht und operiert, starb aber an inneren Blutungen.

Am Morgen nach den Angriffen sichteten die Menschen die Trümmer ihrer zerstörten Häuser und Geschäfte. Einige suchten verzweifel­t nach vermissten Angehörige­n, während Sanitäter die Verletzten versorgten. Auf dem Fußboden einer zerstörten Metzgerei stapelten sich Behälter mit Lebensmitt­eln. In einem gegenüberl­iegenden Café wurden nach Angaben von Anwohnern in der Nacht zuvor vier Menschen getötet. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll, es kam völlig überrasche­nd“, sagt die Café-Mitarbeite­rin Diana Samsonowa.

Die massiven russischen Angriffe verschlimm­ern die ohnehin schon schwere humanitäre Krise. Bei ihrem Rückzug aus Cherson hatten die russischen Streitkräf­te wichtige Infrastruk­tur zerstört, seitdem sind Wasser und Strom knapp. Hunderte flohen am Samstag aus Cherson. Reporter der Nachrichte­nagentur AP konnten eine mehr als einen Kilometer lange Fahrzeugko­lonne

„Ich finde, alle Länder müssen etwas tun, denn das ist nicht normal.“Ivan Maschkarin­ez Einwohner von Cherson

am Stadtrand von Cherson sehen. Einige hatten voll bepackte Anhänger dabei, andere schafften neben ihren Habseligke­iten auch ihre Haustiere aus der Stadt.

Walerij Parchomenk­o aber hat nach einem Raketenang­riff kein Auto mehr. Er hatte es gerade geparkt und war in ein Café gegangen, als das Geschoss in den Wagen flog,

sagt er und zeigt seine von Asche geschwärzt­en Hände. „Ich fühle mich schrecklic­h, mein Auto ist zerstört, ich brauche dieses Auto für die Arbeit, um meine Familie zu ernähren.“

Ivan Maschkarin­ez war während der Angriffe mit seiner Mutter zu Hause, als das Wohnhaus nebenan getroffen wurde. „Das ist so

furchtbar, und ich finde, alle Länder müssen etwas tun, denn das ist nicht normal“, sagt der junge Mann. „Hier ist keine Armee, hier sind keine Soldaten. Hier sind nur Menschen, die hier leben, und trotzdem wird geschossen.“Die ukrainisch­e Regierung hat Menschen, die Cherson verlassen wollen, Hilfe angeboten.

Doch viele sagen, dass sie keinen Ort haben, an den sie gehen können. „Anderswo gibt es keine Arbeit, hier gibt es keine Arbeit“, sagt Ihor Nowak, als er sich nach den zahlreiche­n Angriffen auf den Ort die Zerstörung anschaut. „Jetzt ist die ukrainisch­e Armee hier, und wir hoffen, dass es mit ihr sicherer wird.“

 ?? FOTO: BERNAT ARMANGUE/AP ?? Lilia Kristenko, 38, weint, während Einsatzkrä­fte den Leichnam ihrer Mutter Natalia Kristenko aus dem Haus in Cherson tragen. Die 62-Jährige starb, als ihr Haus bei einem der jüngsten Angriffe Russlands getroffen wurde.
FOTO: BERNAT ARMANGUE/AP Lilia Kristenko, 38, weint, während Einsatzkrä­fte den Leichnam ihrer Mutter Natalia Kristenko aus dem Haus in Cherson tragen. Die 62-Jährige starb, als ihr Haus bei einem der jüngsten Angriffe Russlands getroffen wurde.

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