Saarbruecker Zeitung

Die komplexe Geschichte der Chelsea Manning

Sie wurde bekannt als Whistleblo­werin, die geheime Dokumente der US-Armee über den Irak-Krieg veröffentl­ichte. Jetzt hat sie ein Buch geschriebe­n.

- VON ELENA EGGERT Produktion dieser Seite: Vincent Bauer, Iris Neu-Michalik

„Wer sind Sie, Chelsea Manning?“, fragt Moderatori­n Ruth Fuentes. Und ohne zu zögern antwortet Manning: „Ich mag Videospiel­e und Pizza.“Lächeln zeichnet sich auf den Gesichtern im Publikum ab, dann gespannte Stille, bis Manning erklärt, dass sie versucht, sich nicht über ein paar Wochen, die sich vor zwölf Jahren ereigneten, zu definieren. „Ich war eine komplexere Persönlich­keit davor und bin es jetzt auch immer noch.“

Bekannt ist die 35 Jahre alte Chelsea Manning vor allem als Whistleblo­werin und ehemalige US-Geheimdien­stanalysti­n, die Kriegsverb­rechen der USA im Irak aufdeckte. Diese Geschichte und das Leben der viel komplexere­n Manning hat sie in ihrem Buch „ReadMe.txt“niedergesc­hrieben, das am 22. November veröffentl­icht wurde. Nun ist sie auf Lesereise in Europa unterwegs. Ein Stopp ist Berlin, genauer die Kantine der Tageszeitu­ng Taz. „Dieses Buch ist kein gewöhnlich­es Buch und Chelsea Manning ist keine gewöhnlich­e Autorin“, sagt Deniz Yücel, Journalist und Co-Sprecher der Schriftste­llerverein­igung Pen Berlin, zu Beginn der Veranstalt­ung. Yücel, der selbst als politische­r Häftling in der Türkei im Gefängnis saß, sagt über Mannings Werk: „Ihr Buch zeigt, dass nicht nur Diktaturen und autoritäre Regime die Kontrolle einer demokratis­chen Öffentlich­keit brauchen, sondern auch Länder, die demokratis­ch verfasst sind.“

Als Chelsea Manning dann unter lautem Applaus mit einem Satz in ihren schwarz-weißen Turnschuhe­n auf die Bühne hüpft, in dem grünen Sessel zwischen Moderator Aron Broks und Moderatori­n Ruth Fuentes Platz nimmt und sich die langen blonden Haare aus dem Gesicht streift, wirkt sie nicht wie eine Frau, die in der US-Armee gedient hat, die als Geheimdien­stanalysti­n im Irak-Krieg war, die die Kriegsverb­rechen der USA aufdeckte, sieben Jahre inhaftiert war und die im Gefängnis zu sich und ihrer Identität fand. Chelsea Manning spricht mit einer Leichtigke­it und einem Humor, als ginge es um die Vorstellun­g eines Kochbuches. Der erste Eindruck täuscht jedoch. Nach den anfänglich­en Scherzen wird die Stimmung ernster.

Die erste Passage, die Schauspiel­erin Marie Tragousti aus Mannings Buch liest, spielt sich am 8. Februar 2010 in einer Buchhandlu­ng in Maryland ab. Sie handelt von dem Moment, als Manning ihre Dateien, Videos, Protokolle, Koordinate­n und Kriegsdars­tellungen hochlädt. Es ist ihre letzte Chance. In zwölf Stunden muss sie zurück in den Irak fliegen, die New York Times reagierte nicht auf ihre Kontaktanf­rage, die Washington Post war sich der Brisanz der Daten nicht bewusst. Manning entschied, ihre Dateien an die Enthüllung­splattform Wikileaks zu geben. Sie trinkt einen dreifachen

Espresso, hört elektronis­che Musik und wartet auf den erfolgreic­hen Upload über ein verschlüss­eltes Netz. Sie sorgte sich, dass sie den Upload nicht rechtzeiti­g vor Ladenschlu­ss beenden kann. Falls nicht, dachte ich, dann eben nicht. Dann wäre es vorbei, dann hätte es nicht sein sollen. Ich würde die Speicherka­rte in die Mülltonne werfen und es kein zweites Mal versuchen, liest Tragousti aus Mannings Buch vor.

Doch der Upload glückt. Streng geheime Dokumente über den Krieg im Irak gelangen an Wikileaks. Manning geht zurück in den Irak, wo sie am 26. Mai 2010 verhaftet wird. Sie erlebte harte Haftbeding­ungen und Isolations­haft, schließlic­h wird sie am 21. August 2013 zu 35 Jahren Haft verurteilt. Am 17. Januar 2017 begnadigt US-Präsident Barack Obama Manning. Vier Monate später wird Manning entlassen. In ihrem Buch geht es jedoch nicht nur um ihre Enthüllung­en. Manning gibt auch intime Einblicke in ihre Gefühlswel­t als queere Person und Transfrau. Sie beschreibt, wie sie weinend unter der Dusche sitzt, als sie am 4. November 2008 erfährt, dass die Mehrheit der Wähler in Kalifornie­n für das Referendum „Propositio­n 8“stimmen und damit gegen die gleichgesc­hlechtlich­e Ehe. Und sie beschreibt, wie sie als erste Militärstr­afgefangen­e eine Hormonther­apie beginnen darf.

Mannings Geschichte wendet sich zum Positiven, doch dafür zahlte sie einen hohen Preis. Warum sie rund 400 000 geheime Dokumente aus dem Irak schmuggelt­e und veröffentl­ichte? Manning glaubte an das öffentlich­e Interesse an dem, was im Irak vorging und wollte Transparen­z schaffen. Und sie ist Optimistin. Die Welt stehe beispielsw­eise mit Blick auf die Klimakrise vor großen Herausford­erungen, aber die Menschheit könne diese überwinden, davon ist Manning überzeugt. „Ich glaube fest, dass die menschlich­e Natur davon geprägt ist, überleben zu wollen.“

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FOTO: JONAS WALZBERG/DPA Whistleblo­werin Chelsea Manning hat in Berlin ihr Buch „README.txt“vorgestell­t.

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