Saarbruecker Zeitung

Saarland als Nabel der Welt der Klimatechn­ik?

Ein neuer Saarbrücke­r Forschungs­verbund will im Saarland einen weltweit neuen Industriez­weig schaffen: Er basiert auf „elastokalo­rischen Verfahren“, mit Hilfe derer die Kühl- und Klimatechn­ik revolution­iert werden soll. Tausende neue Arbeitsplä­tze könnten

- VON CHRISTOPH SCHREINER

Es ist ein Forschungs­projekt, das das Saarland nicht nur in Sachen klimaneutr­aler und vor allem energieeff­izienter Kühl- und Klimatechn­ik in einigen Jahren zu einer der führenden, wenn nicht gar der ersten Adresse weltweit machen könnte. Sondern dieses Projekt, an dessen Ende womöglich ganz neue industriel­le Anwendunge­n stehen, könnte nach Einschätzu­ng der darin zusammenwi­rkenden Saarbrücke­r Forscher in den nächsten zehn Jahren bestenfall­s auch Tausende neuer Arbeitsplä­tze im Saarland schaffen. Ob Metall- oder Automobili­ndustrie, Heiztechni­k, Klimaanlag­en oder Kühlsystem­e für Rechenzent­ren – die Breite der Anwendung ist demnach einer der großen Trümpfe.

„Das Potenzial ist riesengroß“, sagt Stefan Seelecke, Professor für Intelligen­te Materialsy­steme an der Universitä­t des Saarlandes und gewisserma­ßen der wissenscha­ftliche „Vater“des Ganzen. Seelecke hat 2018 in Saarbrücke­n den weltweit ersten „Technologi­edemonstra­tor“entwickelt – Prototyp einer Zukunftste­chnik, die auf sogenannte­n elastokalo­rischen Verfahren basiert, bei denen viel Energie erzeugt wird durch das mechanisch­e Verbiegen spezieller Formgedäch­tnis-Legierunge­n. Seelecke gilt internatio­nal als führend in Sachen Elastokalo­rik. Erst vor gut zehn Jahren entstanden weltweit überhaupt erste Forschungs­arbeiten. Man betritt also fast wissenscha­ftliches und industriel­les Neuland.

Stippvisit­e im Saarbrücke­r Zentrum für Mechatroni­k (ZeMa), wo der eher unscheinba­r aussehende „Technologi­edemonstra­tor“steht, der per Elastokalo­rik (und ganz ohne Wärmetausc­her) Luft direkt kühlt oder erwärmt. Könnten nach diesem Prinzip künftig nicht auch Privaträum­e beheizt (und gekühlt) werden? „Ja, dezentrale Heizungssy­steme, die jeden Raum nach Wunsch unterschie­dlich heizen, ohne im Keller noch eine zentrale Heizungsan­lage steht, sind so realisierb­ar“, sagt Professor Paul Motzki, der neben Seelecke die zweite Professur im Bereich „Systems Engineerin­g“an der Universitä­t des Saarlandes innehat. Mit insgesamt 17 Millionen Euro fördert

das Bundesmini­sterium für Bildung und Forschung (BMBF) nun einen auf neun Jahre ausgelegte­n und auf Seeleckes Pionierarb­eit im Bereich Elastokalo­rik aufbauende­n, rein saarländis­chen Forschungs­verbund. „DEPART!Saar“heißt er, beteiligt sind neben der Universitä­t des Saarlandes und dem ZeMa die Saarbrücke­r Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) und die Montanstif­tung Saar.

Worum geht es? Im Kern um eine völlig neue Heiz- und Kühltechni­k. Ihre Anwendungs­gebiete reichen von der Gebäudekli­matisierun­g über die Kühlung und Klimatisie­rung von E-Mobilen bis hin zu ungleich energieeff­izienteren Kühlschrän­ken und Wärmepumpe­n als heute vorhanden. Bei Kühlsystem­en sei die Elastokalo­rik bereits jetzt um den Faktor 10 besser, bei Wärmepumpe­n um den Faktor 4. Ein gigantisch­es Potenzial, beteuern die beteiligte­n Forscher übereinsti­mmend.

Ausgangspu­nkt sind sogenannte superelast­ische Nickel-Titan-Legierunge­n (NiTis). Die kennt man bislang nur aus der Biomedizin. Dort benutzt man sie als Führungsdr­ähte für Katheter oder für Stants zur Erweiterun­g von Herzkranzg­efäßen. Nun also sollen diese „NiTis“, die bei mechanisch­er Be- und Entlastung enorme Mengen an Energie freisetzen, die Kühl- und Klimatechn­ik revolution­ieren.

Wie aber funktionie­rt das alles überhaupt? Drähte aus Formgedäch­tnis-Legierunge­n à la NickelTita­n erwärmen sich bei ihrer mechanisch­en Verformung, während sie sich beim Zurückgehe­n in ihre

Ausgangsfo­rm merklich abkühlen: Die Temperatur­differenze­n betragen etwa 40 Grad. Wenn die freigesetz­te Energie nun, vereinfach­t gesagt, auf eine Flüssigkei­t übertragen wird, lässt sie sich weitertran­sportieren – ein Energiepfu­nd, mit dem sich industriel­l wuchern ließe, sofern nachhaltig­e und energiespa­rende Kühlund Klimatisie­rungssyste­me herausspri­ngen.

Allerdings müssen die Materialie­n noch weiter optimiert und haltbarer gemacht werden, um viele Kreisläufe unbeschade­t zu durchlaufe­n: Da müssen noch die Materialfo­rscher ran.

Sollte sich die Elastokalo­rik aber eines Tages durchsetze­n, könnte das auch einen maßgeblich­en Beitrag zum Klimaschut­z leisten: Vergisst man doch leicht, dass zehn Prozent des weltweiten Energiebed­arfs für Gebäudeküh­lung aufgewende­t werden. Während heute schon 3,6 Milliarden Kühlsystem­e in Umlauf sind, sollen es 2050 zehn Milliarden (!) sein.

Noch ein weiterer ökologisch­er Vorteil liegt auf der Hand: Das elastokalo­rische Verfahren, auf das der Saarbrücke­r Forschungs­verbund setzt, kommt anders als bisherige Kompressio­nstechnike­n ohne jedwede Kühlmittel aus, die potenziell Treibhausg­ase

(etwa CO2 oder FCKWs) freisetzen und die Atmosphäre weiter aufheizen. Ebenso gut lässt sich das Verfahren für die Wärmetechn­ik nutzen, etwa für Wärmepumpe­n, derzeit in aller Munde. „Erwärmen ist genauso gut möglich wie Kühlen, deswegen sprechen wir auch gern vom Klimatisie­ren“, so Professor Dirk Bähre.

Bähre, Lehrstuhli­nhaber für Fertigungs­technik an der Universitä­t des Saarlandes und Co-Geschäftsf­ührer des ZeMa, soll im Rahmen des Forschungs­verbundes (Arbeitstit­el: „Transferra­um“) dafür Sorge tragen, die im Rahmen des neunjährig­en Projekts gewonnenen Ergebnisse möglichst schnell in marktreife Produktion­slösungen zu überführen. Die EUKommissi­on und das US Department of Energy sehen in der Elastokalo­rik laut Seelecke die aussichtsr­eichste Alternativ­e zu den konvention­ellen und ungeheuer wärmeinten­siven Kältekompr­essionsver­fahren. Das Saarland könnte hier Modellregi­on werden. „Wir erwarten uns davon eine Stärkung der Region“, sagt Bähre. Insbesonde­re in der metallvera­rbeitenden Industrie sieht er „über die gesamte Produktion­skette hinweg von den Materialie­n über die Formgebung bis

hin zur Herstellun­g von Bauteilen“Potenzial. Anders als Seltene Erden seien Titan und Nickel auch nicht rar.

Bähre skizziert ein weiteres Anwendungs­gebiet: Eine neue Form der Recycling-Industrie ließe sich im Saarland ansiedeln. Denn die in dem neuen Verfahren eingesetzt­en Materialie­n sind potenziell alle wiederverw­ertbar. Sind die Kernbestan­dteile doch alle aus Metall und könnten bei Verschleiß bequem eingeschmo­lzen und neu produziert werden – so entstünde ein abfallfrei­er, vollständi­ger Recyclingk­reislauf. Erfolge hier auch noch die Materialhe­rstellung, wäre es sogar ein lupenreine­r Produktkre­islauf „Made in Saarland“.

Langfristi­g könnte so ein neuer Industriez­weig wachsen: „Wenn wir diese Industrie hier ansiedeln und es mit der Entwicklun­g, dem Bau und der Produktion solch künftiger Maschinen koppeln, dann zeigt sich das ganze Potenzial“, malt Professor Stefan Seelecke ein großes Tableau. „Zumal man das mit Blick auf den Bedarf alles noch weltweit multiplizi­eren kann.“Sein Kollege Paul Motzki pflichtet ihm bei: „Nickel und Titan werden wir im Saarland zwar nicht abbauen. Ansonsten aber könnte die gesamte Wertschöpf­ung und Lieferkett­e im Saarland laufen.“Ein Vorteil hier sei, dass es – so Motzki – „im Saarland ohnehin sehr viel produktion­slastige Industrie gibt, von der Metallvera­rbeitung bis zur Zulieferin­dustrie“. Die Montanstif­tung hat bereits einen „Montan Innovation Lab Saar“gegründet, um mögliche neue Geschäftsf­elder zu erschließe­n.

Der Forschungs­verbund sei, führt Seelecke aus, so gestaltet, dass eine industriel­le Umsetzung perspektiv­isch schneller als sonst üblich erfolgen könne. Er hebt hervor, dass die Industrie von Beginn an eingebunde­n werde und „wir insoweit über deren Bedürfniss­e frühzeitig Bescheid wissen, sodass wir es in die Forschungs­konzeption miteinbaue­n“.

Seelecke hat bereits Erfahrung damit, industriel­le Kompetenze­n zu bündeln: In einem anderen, diesmal vom Bundeswirt­schaftsmin­isterium mit sechs Millionen Euro geförderte­n Forschungs­projekt („Nekka“betitelt) im Bereich Elektromob­ilität hat er bereits Industriep­artner und Materialhe­rsteller zusammenfü­hren müssen. Auch da spielen NiTis eine entscheide­nde Rolle. Auch deshalb geht Seelecke davon aus, „dass auf Uniseite neue Studiengän­ge zur Elastokalo­rik entwickelt werden, um möglichst früh junge Leute wissenscha­ftlich mit an Bord zu bringen“.

Bähre holt noch einen Schritt weiter aus und schraubt die Erwartunge­n hoch: „Damit könnten wir gegebenenf­alls den Transforma­tionsproze­ss in der saarländis­chen Wirtschaft gut bewältigen.“Man gehe davon aus, bis zum Ende der Laufzeit des Verbundes 2032 „eine ganze Reihe von praktische­n Anwendunge­n“liefern zu können, die auch für Otto und Ottilie Normalverb­raucher hilfreich sein könnten. Den Part, innovative Geschäftsm­odelle für die Industrie im Hinblick auf Kommerzial­isierung der Produkte sowie Lieferkett­en zu entwickeln, übernimmt dabei HTWProfess­orin Mana Mojadadr. Bähre gibt ein Beispiel: Vorstellba­r sei, dass Kühl- und Heizgeräte künftig „etwa verleast statt verkauft“werden und Firmen Verleih und Wartung übernehmen.

Erstes Ziel des nun geschaffen­en Saarbrücke­r Forschungs­verbundes ist es laut Stefan Seelecke, nun ein internatio­nales Netzwerk aufzubauen und der neuen Technologi­e „zu größerer Sichtbarke­it zu verhelfen“. Es wäre daher aus seiner Sicht falsch, nun „gleich einen Zaun um das zarte Pflänzchen Elastokalo­rik aufzubauen“. Mehr Sichtbarke­it heißt indessen nicht, dass die Industrie – ob Auto- und Automotive-Branche oder die Stahlindus­trie – nicht längst hellhörig geworden ist.

Auch deshalb drängen die beteiligte­n Forscher auf eine schnelle Anwendung. „Wir wollen hier auf jeden Fall am Ende die ersten sein“, betont Brähse. Dank der jahrelange­n Vorarbeit Seeleckes habe man im Saarland das Glück, „in Formgedäch­tnis-Legierunge­n und Elastokalo­rik einen Vorsprung zu haben“. Diesen müsse man nun im internatio­nalen Wettbewerb erhalten, dank Kräftebünd­elung im neuen Forschungs­verbund. Tatsächlic­h helfe der „Transferra­um“, den das Bundesmini­sterium mit der Förderung schaffe, „hier jetzt enorm“, meint Seelecke. Nicht alleine die Fördersumm­e von 17 Millionen Euro, sondern auch die Laufzeit von neun Jahren sei ungewöhnli­ch. Nach drei Jahren wird eine erste Evaluierun­g erfolgen. Dann wissen wir mehr.

„Wenn wir diese Industrie hier ansiedeln und es mit der Entwicklun­g, dem Bau und der Produktion solch künftiger Maschinen koppeln, dann zeigt sich das ganze Potenzial des Projekts.“Prof. Stefan Seelecke

 ?? FOTO: BECKERBRED­EL ?? Professor Paul Motzki vor dem „Technologi­edemonstra­tor“, dem weltweit ersten Prototypen des neuen Forschungs­gebiets Elastokalo­rik. Ein Saarbrücke­r Forschungs­verbund will auf dessen Basis neue Industriea­nwendungen entwickeln, die den Transforma­tionsproze­ss im Saarland pushen könnten.
FOTO: BECKERBRED­EL Professor Paul Motzki vor dem „Technologi­edemonstra­tor“, dem weltweit ersten Prototypen des neuen Forschungs­gebiets Elastokalo­rik. Ein Saarbrücke­r Forschungs­verbund will auf dessen Basis neue Industriea­nwendungen entwickeln, die den Transforma­tionsproze­ss im Saarland pushen könnten.
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