Saarland als Nabel der Welt der Klimatechnik?
Ein neuer Saarbrücker Forschungsverbund will im Saarland einen weltweit neuen Industriezweig schaffen: Er basiert auf „elastokalorischen Verfahren“, mit Hilfe derer die Kühl- und Klimatechnik revolutioniert werden soll. Tausende neue Arbeitsplätze könnten
Es ist ein Forschungsprojekt, das das Saarland nicht nur in Sachen klimaneutraler und vor allem energieeffizienter Kühl- und Klimatechnik in einigen Jahren zu einer der führenden, wenn nicht gar der ersten Adresse weltweit machen könnte. Sondern dieses Projekt, an dessen Ende womöglich ganz neue industrielle Anwendungen stehen, könnte nach Einschätzung der darin zusammenwirkenden Saarbrücker Forscher in den nächsten zehn Jahren bestenfalls auch Tausende neuer Arbeitsplätze im Saarland schaffen. Ob Metall- oder Automobilindustrie, Heiztechnik, Klimaanlagen oder Kühlsysteme für Rechenzentren – die Breite der Anwendung ist demnach einer der großen Trümpfe.
„Das Potenzial ist riesengroß“, sagt Stefan Seelecke, Professor für Intelligente Materialsysteme an der Universität des Saarlandes und gewissermaßen der wissenschaftliche „Vater“des Ganzen. Seelecke hat 2018 in Saarbrücken den weltweit ersten „Technologiedemonstrator“entwickelt – Prototyp einer Zukunftstechnik, die auf sogenannten elastokalorischen Verfahren basiert, bei denen viel Energie erzeugt wird durch das mechanische Verbiegen spezieller Formgedächtnis-Legierungen. Seelecke gilt international als führend in Sachen Elastokalorik. Erst vor gut zehn Jahren entstanden weltweit überhaupt erste Forschungsarbeiten. Man betritt also fast wissenschaftliches und industrielles Neuland.
Stippvisite im Saarbrücker Zentrum für Mechatronik (ZeMa), wo der eher unscheinbar aussehende „Technologiedemonstrator“steht, der per Elastokalorik (und ganz ohne Wärmetauscher) Luft direkt kühlt oder erwärmt. Könnten nach diesem Prinzip künftig nicht auch Privaträume beheizt (und gekühlt) werden? „Ja, dezentrale Heizungssysteme, die jeden Raum nach Wunsch unterschiedlich heizen, ohne im Keller noch eine zentrale Heizungsanlage steht, sind so realisierbar“, sagt Professor Paul Motzki, der neben Seelecke die zweite Professur im Bereich „Systems Engineering“an der Universität des Saarlandes innehat. Mit insgesamt 17 Millionen Euro fördert
das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) nun einen auf neun Jahre ausgelegten und auf Seeleckes Pionierarbeit im Bereich Elastokalorik aufbauenden, rein saarländischen Forschungsverbund. „DEPART!Saar“heißt er, beteiligt sind neben der Universität des Saarlandes und dem ZeMa die Saarbrücker Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) und die Montanstiftung Saar.
Worum geht es? Im Kern um eine völlig neue Heiz- und Kühltechnik. Ihre Anwendungsgebiete reichen von der Gebäudeklimatisierung über die Kühlung und Klimatisierung von E-Mobilen bis hin zu ungleich energieeffizienteren Kühlschränken und Wärmepumpen als heute vorhanden. Bei Kühlsystemen sei die Elastokalorik bereits jetzt um den Faktor 10 besser, bei Wärmepumpen um den Faktor 4. Ein gigantisches Potenzial, beteuern die beteiligten Forscher übereinstimmend.
Ausgangspunkt sind sogenannte superelastische Nickel-Titan-Legierungen (NiTis). Die kennt man bislang nur aus der Biomedizin. Dort benutzt man sie als Führungsdrähte für Katheter oder für Stants zur Erweiterung von Herzkranzgefäßen. Nun also sollen diese „NiTis“, die bei mechanischer Be- und Entlastung enorme Mengen an Energie freisetzen, die Kühl- und Klimatechnik revolutionieren.
Wie aber funktioniert das alles überhaupt? Drähte aus Formgedächtnis-Legierungen à la NickelTitan erwärmen sich bei ihrer mechanischen Verformung, während sie sich beim Zurückgehen in ihre
Ausgangsform merklich abkühlen: Die Temperaturdifferenzen betragen etwa 40 Grad. Wenn die freigesetzte Energie nun, vereinfacht gesagt, auf eine Flüssigkeit übertragen wird, lässt sie sich weitertransportieren – ein Energiepfund, mit dem sich industriell wuchern ließe, sofern nachhaltige und energiesparende Kühlund Klimatisierungssysteme herausspringen.
Allerdings müssen die Materialien noch weiter optimiert und haltbarer gemacht werden, um viele Kreisläufe unbeschadet zu durchlaufen: Da müssen noch die Materialforscher ran.
Sollte sich die Elastokalorik aber eines Tages durchsetzen, könnte das auch einen maßgeblichen Beitrag zum Klimaschutz leisten: Vergisst man doch leicht, dass zehn Prozent des weltweiten Energiebedarfs für Gebäudekühlung aufgewendet werden. Während heute schon 3,6 Milliarden Kühlsysteme in Umlauf sind, sollen es 2050 zehn Milliarden (!) sein.
Noch ein weiterer ökologischer Vorteil liegt auf der Hand: Das elastokalorische Verfahren, auf das der Saarbrücker Forschungsverbund setzt, kommt anders als bisherige Kompressionstechniken ohne jedwede Kühlmittel aus, die potenziell Treibhausgase
(etwa CO2 oder FCKWs) freisetzen und die Atmosphäre weiter aufheizen. Ebenso gut lässt sich das Verfahren für die Wärmetechnik nutzen, etwa für Wärmepumpen, derzeit in aller Munde. „Erwärmen ist genauso gut möglich wie Kühlen, deswegen sprechen wir auch gern vom Klimatisieren“, so Professor Dirk Bähre.
Bähre, Lehrstuhlinhaber für Fertigungstechnik an der Universität des Saarlandes und Co-Geschäftsführer des ZeMa, soll im Rahmen des Forschungsverbundes (Arbeitstitel: „Transferraum“) dafür Sorge tragen, die im Rahmen des neunjährigen Projekts gewonnenen Ergebnisse möglichst schnell in marktreife Produktionslösungen zu überführen. Die EUKommission und das US Department of Energy sehen in der Elastokalorik laut Seelecke die aussichtsreichste Alternative zu den konventionellen und ungeheuer wärmeintensiven Kältekompressionsverfahren. Das Saarland könnte hier Modellregion werden. „Wir erwarten uns davon eine Stärkung der Region“, sagt Bähre. Insbesondere in der metallverarbeitenden Industrie sieht er „über die gesamte Produktionskette hinweg von den Materialien über die Formgebung bis
hin zur Herstellung von Bauteilen“Potenzial. Anders als Seltene Erden seien Titan und Nickel auch nicht rar.
Bähre skizziert ein weiteres Anwendungsgebiet: Eine neue Form der Recycling-Industrie ließe sich im Saarland ansiedeln. Denn die in dem neuen Verfahren eingesetzten Materialien sind potenziell alle wiederverwertbar. Sind die Kernbestandteile doch alle aus Metall und könnten bei Verschleiß bequem eingeschmolzen und neu produziert werden – so entstünde ein abfallfreier, vollständiger Recyclingkreislauf. Erfolge hier auch noch die Materialherstellung, wäre es sogar ein lupenreiner Produktkreislauf „Made in Saarland“.
Langfristig könnte so ein neuer Industriezweig wachsen: „Wenn wir diese Industrie hier ansiedeln und es mit der Entwicklung, dem Bau und der Produktion solch künftiger Maschinen koppeln, dann zeigt sich das ganze Potenzial“, malt Professor Stefan Seelecke ein großes Tableau. „Zumal man das mit Blick auf den Bedarf alles noch weltweit multiplizieren kann.“Sein Kollege Paul Motzki pflichtet ihm bei: „Nickel und Titan werden wir im Saarland zwar nicht abbauen. Ansonsten aber könnte die gesamte Wertschöpfung und Lieferkette im Saarland laufen.“Ein Vorteil hier sei, dass es – so Motzki – „im Saarland ohnehin sehr viel produktionslastige Industrie gibt, von der Metallverarbeitung bis zur Zulieferindustrie“. Die Montanstiftung hat bereits einen „Montan Innovation Lab Saar“gegründet, um mögliche neue Geschäftsfelder zu erschließen.
Der Forschungsverbund sei, führt Seelecke aus, so gestaltet, dass eine industrielle Umsetzung perspektivisch schneller als sonst üblich erfolgen könne. Er hebt hervor, dass die Industrie von Beginn an eingebunden werde und „wir insoweit über deren Bedürfnisse frühzeitig Bescheid wissen, sodass wir es in die Forschungskonzeption miteinbauen“.
Seelecke hat bereits Erfahrung damit, industrielle Kompetenzen zu bündeln: In einem anderen, diesmal vom Bundeswirtschaftsministerium mit sechs Millionen Euro geförderten Forschungsprojekt („Nekka“betitelt) im Bereich Elektromobilität hat er bereits Industriepartner und Materialhersteller zusammenführen müssen. Auch da spielen NiTis eine entscheidende Rolle. Auch deshalb geht Seelecke davon aus, „dass auf Uniseite neue Studiengänge zur Elastokalorik entwickelt werden, um möglichst früh junge Leute wissenschaftlich mit an Bord zu bringen“.
Bähre holt noch einen Schritt weiter aus und schraubt die Erwartungen hoch: „Damit könnten wir gegebenenfalls den Transformationsprozess in der saarländischen Wirtschaft gut bewältigen.“Man gehe davon aus, bis zum Ende der Laufzeit des Verbundes 2032 „eine ganze Reihe von praktischen Anwendungen“liefern zu können, die auch für Otto und Ottilie Normalverbraucher hilfreich sein könnten. Den Part, innovative Geschäftsmodelle für die Industrie im Hinblick auf Kommerzialisierung der Produkte sowie Lieferketten zu entwickeln, übernimmt dabei HTWProfessorin Mana Mojadadr. Bähre gibt ein Beispiel: Vorstellbar sei, dass Kühl- und Heizgeräte künftig „etwa verleast statt verkauft“werden und Firmen Verleih und Wartung übernehmen.
Erstes Ziel des nun geschaffenen Saarbrücker Forschungsverbundes ist es laut Stefan Seelecke, nun ein internationales Netzwerk aufzubauen und der neuen Technologie „zu größerer Sichtbarkeit zu verhelfen“. Es wäre daher aus seiner Sicht falsch, nun „gleich einen Zaun um das zarte Pflänzchen Elastokalorik aufzubauen“. Mehr Sichtbarkeit heißt indessen nicht, dass die Industrie – ob Auto- und Automotive-Branche oder die Stahlindustrie – nicht längst hellhörig geworden ist.
Auch deshalb drängen die beteiligten Forscher auf eine schnelle Anwendung. „Wir wollen hier auf jeden Fall am Ende die ersten sein“, betont Brähse. Dank der jahrelangen Vorarbeit Seeleckes habe man im Saarland das Glück, „in Formgedächtnis-Legierungen und Elastokalorik einen Vorsprung zu haben“. Diesen müsse man nun im internationalen Wettbewerb erhalten, dank Kräftebündelung im neuen Forschungsverbund. Tatsächlich helfe der „Transferraum“, den das Bundesministerium mit der Förderung schaffe, „hier jetzt enorm“, meint Seelecke. Nicht alleine die Fördersumme von 17 Millionen Euro, sondern auch die Laufzeit von neun Jahren sei ungewöhnlich. Nach drei Jahren wird eine erste Evaluierung erfolgen. Dann wissen wir mehr.
„Wenn wir diese Industrie hier ansiedeln und es mit der Entwicklung, dem Bau und der Produktion solch künftiger Maschinen koppeln, dann zeigt sich das ganze Potenzial des Projekts.“Prof. Stefan Seelecke