Straßburger Tanzexzesse schwappen bis nach Forbach
Im Nationaltheater Le Carreau wurde am Freitag ein Tanzstück mit Laienbeteiligung über die Tanzwut im ausgehenden Mittelalter aufgeführt.
Kann Tanzen ansteckend sein? Diese Frage hat den Straßburger Choreografen Vidal Bini ernsthaft beschäftigt – und zwar schon vor Ausbruch der CoronaPandemie. In Straßburg soll nämlich im Jahr 1518 eine „Tanzepidemie“ausgebrochen sei. Tagelang sollen die Menschen auf der Straße getanzt haben, ohne aufhören zu können. Choreograf Bini, der sich schon länger mit historischen Themen beschäftigt, hat diese Fußnote der Straßburger Geschichte aufgegriffen und daraus ein Tanzstück gemacht, das am Freitag im Forbacher Nationaltheater Le Carreau gastierte.
Ursprünglich hatte Bini vorgehabt, „Narr: Pour entrer dans la nuit“, so der Titel, als eine Art
Produktion dieser Seite: Martin Wittenmeier Vincent Bauer
Flashmob auf der Straße aufzuführen. Was ihn davon abhielt, war die Bürokratie, die für jeden Auftritt eine behördliche Genehmigung erfordert hätte. Aber auch unter dem Dach des Theaters war der Spielort ungewöhnlich, denn alle, nicht nur die Tänzerinnen und Tänzer und die Live-Musiker der Compagnie KHZ gingen auf die große Bühne, auch die überwiegend jungen Zuschauer fanden hier im großen Rund ihre Plätze auf Stühlen, und Kissen. Sogar ein Bartresen mit Freigetränken war auf der Szene aufgebaut. Die fünf Tänzerinnen und Tänzer der Truppe, gekleidet in schlichten heutigen Trikot-Hosen und T-Shirts erläuterten zu Anfang, was sie vorhaben. Choreograf Bini hatte nicht umsonst mehrere Jahre in Berlin gewohnt, der Hochburg des KonzeptTanzes, bei dem man zum Tanz gern Vorträge hält.
Hier aber erwies es sich als recht sinnvoll, um das Publikum – zunächst im übertragenen Sinne – an die Hand zu nehmen. Denn der Tanzauftakt war zunächst ein wenig dröge. Da es über den Tanzstil der Epidemie-„Kranken“von 1518 kaum Aufzeichnungen, eher Fantasmen der nachfolgenden Überlieferungen gab, eröffnete die Truppe den Tanz mit frei nachempfunden traditionellen Volkstanzschritten, wobei sie sich nach und nach mit einigen mittelalterlichen Röcken und Tuniken ausstatteten. Die typischen Volkstanzformen, wie etwa Kreisformationen, in Reihe tanzen, Stampfen, Händeklatschen, Drehen, wurden zunehmend aufgelockerter, entspannter, individueller.
Geradezu phantastisch allerdings war vom ersten Takt an die Musik. Mit diversen Handtrommeln, Schellen, Metallkörpern aus entferntesten Ländern kreierte der Percussionist, der von zwei Kollegen an Laptops flankiert wurde, aufregend komplexe treibende Rhythmen, die selbst Tanzmuffel in Trance versetzen können. Irgendwann erhoben sich die ersten Zuschauer, um sich unter die Gruppe zu mischen, mit ihnen – mehrstimmig und beeindrucken gut – im Chor zu singen und zu tanzen. Natürlich handelte es sich bei diesen ersten „Tanzvirusinfizierten“um jene rund 20 Laien aus Forbach und dem angrenzenden Saarland, die mit der Compagnie zuvor in Workshops trainiert hatten.
Sodann erfolgte die allmähliche Metamorphose einer mittelalterlichen Tanzgellschaft in eine fröhliche bunt beleuchtete Electro-Party, in die immer mehr Zuschauende sanft an den Händen hineingezogen wurden. Während an der Bühnenrückwand eine Bühnenbild aus zusammenstürzenden modernen Stadthochhäusern mit halluzinierten Wesen wie aus Boschs „Garten der Lüste“zusammengebaut wurde, durfte die „Tanzverrückten“auf der Tanzfläche so normal oder ausgeflippt tanzen, wie es ihnen gefiel. Insgesamt erlebte man so ein beeindruckendes soziokulturelles Ereignis, ein gutes Beispiel, wie man selbst jugendliches Publikum für zeitgenössische Tanzstücke gewinnen kann.