Die Abgründe des Ehrendomherrn
Ein mittlerweile verstorbener Priester im Bistum Trier hat offenbar über Jahrzehnte sexuellen Missbrauch betrieben und fotografisch dokumentiert. Sein Neffe findet die erschütternden Belege im Haus des Onkels in Friedrichsthal nach dessen Tod. Der Rheinze
In der nüchternen Sprache der Wissenschaft ist ein Gradient die Bezeichnung für das Ansteigen oder das Abfallen einer Linie auf einer bestimmten Strecke. Wenn Steffen Dillinger über seinen Onkel spricht, hat man es mit einem Gefälle zu tun, das wird schnell klar. Man könnte auch von einem regelrechten Absturz sprechen, einem Absturz in menschliche Abgründe. „Man kann den Gradienten sehen“, sagt Dillinger mehrfach beim Gespräch mit der Redaktion der RheinZeitung im Februar 2023.
Dillinger ist promovierter Biologe, er arbeitet als Referatsleiter beim Kriminaltechnischen Institut des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden und lebt in der Nähe von Mainz. Ein Wissenschaftler, der sich mit auf- und absteigenden Messungen auskennt. Den Gradienten, den Absturz, der seit einigen Monaten sein eigenes Leben durchzieht, hat er allerdings nicht kommen sehen. Er beginnt – und endet – in Friedrichsthal, im Haus seines Onkels Edmund Dillinger.
Edmund Dillinger war hoch dekorierter Geistlicher des Bistums Trier. Er hat einen stattlichen WikipediaEintrag, an dessen Oberfläche man wenig Auffälliges ablesen kann. Außer, dass man es mit keinem Leichtgewicht der Kurie zu tun hat.
1935 geboren, 1961 in Trier zum Priester geweiht, bis in die Siebzigerjahre aktiver Seelsorger, danach vor allem im Schuldienst (bis 1999) und bis 2005 als Vorsitzender eines studentischen Hilfswerks in Afrika tätig. Letzteres brachte ihm das Bundesverdienstkreuz sowie den Titel eines Ehrendomherren von Mbalmayo in Kamerun ein. Es gibt Fotos von ihm mit Papst Johannes Paul II. und dessen Nachfolger Benedikt XVI.
In seinen Schriften verlangte Dillinger in donnernder Rhetorik Gehorsam gegenüber den Lehren der Amtskirche. „Mein Onkel war theologisch, sehr vorsichtig formuliert, eher sehr konservativ“, sagt Steffen Dillinger.
Vor allem aber war der Onkel ein Mann von Abgründen, die sich in den Brüchen seiner Biografie früh und wiederholt zeigten. Der Wechsel von der Seelsorge in den Schuldienst und die Sozialarbeit erfolgte bereits 1971 relativ abrupt.
Und im Jahr 2012 wurde er schließlich vom Bistum Trier mit einem öffentlichen Zelebrationsverbot belegt, also einer Art kirchlichem Platzverweis. Er durfte fortan keine öffentlichen Messen mehr lesen und lebte seither zunehmend einsam und verwahrlost in seinem Geburtshaus in Friedrichsthal. Die Kirche hatte ihn fallen lassen wie eine heiße Kartoffel, und sie hatte Gründe dafür.
Gründe, die der Neffe erst im November 2022 ausfindig machte, nachdem Edmund Dillinger zunächst beim Betreten einer Kirche gestürzt und dann an einer Corona-Infektion gestorben war. „Das Verhältnis zwischen meinem Onkel und meinem Vater war nicht gut, es gab kaum Kontakt. Aber als nächster lebender Verwandter musste ich mich vor allem in den letzten zehn Jahren um ihn kümmern“, erklärt Steffen Dillinger. Also fuhr er immer wieder nach Friedrichsthal. Er kannte allerdings im Haus des Onkels aus dieser Zeit nur das untere Stockwerk.
Als er die Tür der anderen beiden Stockwerke, die er als Kind letztmals gesehen hatte, nach dem Tod seines Onkels öffnete, erkannte er sie nicht wieder. „Alles war regelrecht verdreckt. Mein Onkel war zum Messie geworden, man muss das leider so sagen.“Überall stapelten sich Bücher, religiöse Gegenstände und vor allem einfach nur Müll.
Das eigentliche Grauen fand sich allerdings im obersten Stock. „Der Onkel hatte mir früher immer verboten, dieses Stockwerk zu betreten.“Nicht ohne Grund: Steffen Dillinger fand dort Kisten mit Fotografien und über 700 Filmen. Sie zeigen Edmund Dillinger über Jahrzehnte im Kreis von immer anderen Heranwachsenden, einige erkennbar minderjährig. Die Aufnahmen reichen aus den Sechziger- und Siebzigerjahren des vergangenen bis in die Nullerjahre unseres Jahrhunderts. Je jünger sie sind, desto drastischer sind die Motive.
Anfangs sind die Knaben noch halb bekleidet, etwa in Beduinenkostümen. Oder mit Badehose im
Freibad, als die Kamera sie unter einem Tisch ablichtet. Die jüngsten Aufnahmen sind hart pornografisch. Von ekligen Spannerbildern über verschwiemelte Zärtlichkeiten bis hin zu explizitem Sex – das ist der über Jahrzehnte durchfotografierte Gradient, von dem der immer noch sichtlich erschütterte Neffe spricht: „Man sieht, wie er sich immer mehr getraut hat. Wie er immer weiter enthemmt abgerutscht ist – er hatte offenbar nichts zu befürchten.“
Seine „Motive“fand Edmund Dillinger weltweit, immer dort, wo er wirkte. Zunächst auf Wallfahrten, kirchlichen Freizeiten oder im Kreis von Pfadfindern, später im schulischen Umfeld. Und in Afrika. In den Achtzigern und Neunzigern gab er jede Tarnung auf. Seine jungen Begleiter logierten mit ihm auf Dienstreisen in Hotels, er brachte sie irgendwann sogar mit nach Hause ins Saarland. Im Haus in Friedrichsthal versteckte er nichts. „Ich bin sicher, jemand sollte das finden, was ich gefunden habe“, sagt Steffen Dillinger. Aus reinem Instinkt heraus brachte er die Kisten mit den Fotos und Filmen sofort an einen sicheren Ort.
Er tat gut daran: Als er am nächsten Tag, nur einen Tag nach dem Tod des Onkels, wieder in Friedrichsthal war, bemerkte er, dass in das Haus eingebrochen worden war. Kurze Zeit später ereignete sich ein zweiter Einbruch. Entwendet wurde nichts, obwohl im Haus durchaus Gegenstände von einigem Wert zu stehlen
gewesen wären. „Die haben etwas Bestimmtes gesucht“, sagt Dillinger. Wer „die“gewesen sein könnten, weiß er nicht. Ein drittes Mal kamen die Einbrecher jedenfalls nicht.
Seit Dezember sichtet Steffen Dillinger nun in seiner Freizeit die Hinterlassenschaften des Onkels. Wegen des potenziell strafrechtlich relevanten Charakters vieler Fotos hat er Selbstanzeige erstattet. Aber auch zum Bistum Trier hat er Kontakt aufgenommen. Bevor er Kontakt zur Presse suchte, erstellte er eine 40-seitige Powerpoint-Präsentation, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Auf der letzten Folie steht nur die Frage „Und jetzt?“
Mit dieser Präsentation und diesem „Und jetzt?“fuhr er im Februar nach Trier und wurde dort von Bischof Stephan Ackermann empfangen. „Er hat sich alles angeschaut und war erschüttert. Er versprach, den Fall sofort vor die Aufarbeitungskommission für sexuellen Missbrauch zu bringen.“Ackermann hielt Wort, wenig später meldete sich der Vorsitzende der Kommission, Gerhard Robbers, bei Dillinger und lud ihn zu einem erneuten Gespräch nach Trier ein. Robbers ist Professor für Öffentliches Recht und Kirchenrecht an der Universität Trier und war von 2014 bis 2016 Justizminister in Rheinland-Pfalz. Wie Bischof Ackermann dürfte er von dem Fall kaum überrascht gewesen sein, bevor es in das neuerliche Gespräch ging. Ein Blick in die Akten dürfte genügt
haben, um die Geschichte Edmund Dillingers zu erzählen.
Sein Neffe kennt sie seit seinen Besuchen im Haus in Friedrichsthal. Erstmals fiel der Onkel demnach Anfang der Siebzigerjahre auf einer Wallfahrt mit Schülern nach Rom einschlägig auf, als ein Hilfspriester, der offensichtlich Verdacht geschöpft hatte, heimlich einen Film aus Dillingers Kamera holte und die entwickelten Bilder an den damaligen Bischof Bernhard Stein sendete. Edmund Dillinger wurde in der Folge unter der Ägide Steins zumindest auf Zeit aus der Seelsorge entfernt. Im Schuldienst wechselte er in ein anderes Bundesland, nach Nordrhein-Westfalen. „Das ist ungefähr so, als ob man einen alkoholkranken Winzer zur Genesung in eine Brauerei schickt“, kommentiert Steffen Dillinger.
Aus den Augen, aus dem Sinn? Jedenfalls weitete Dillinger seinen Aktionsradius danach sogar deutlich aus. 1972 gründete er sein Hilfswerk „CV Afrikahilfe EV“, eine dem Cartellverband deutscher katholischer Studentenverbindungen nahestehende Organisation. Dillinger war auch Studentenpfarrer. Das Hilfswerk kümmerte sich unter anderem in Kamerun, Togo, Burkina Faso, Ghana oder Liberia um Bildungs- und Gesundheitsprojekte. 1976 erhielt Dillinger für dieses Engagement das Verdienstkreuz am Bande. Fotos aus diesen und späteren Jahren zeigen ihn mit jungen Begleitern in eleganten Hotels in Tunesien oder Ägypten. Selten waren auch Frauen dabei, fast immer waren es junge Männer. „Er hat sie sich augenscheinlich, auch schon früher in Deutschland, mit Alkohol gefügig gemacht“, sagt Steffen Dillinger über das mutmaßliche Verhaltensmuster.
2012 flog sein Onkel – der bis 1999 im Saarland im Schuldienst aktiv war, so am Max-Planck-Gymnasium in Saarlouis –, erneut auf. Aus der Bevölkerung kam nach der Veröffentlichung eines Bildes in der Saarbrücker Zeitung, auf dem Edmund Dillinger mit Messdienern zu sehen war, ein anonymer Hinweis. Es folgten das Zelebrationsverbot und der totale Rückzug mit allmählichem Verfall in das Haus in Friedrichsthal. Bis zum Tod. Eine Aufforderung, sich selbst anzuzeigen und sich einer forensischen Untersuchung „freiwillig“zu unterziehen, hatte Edmund Dillinger seit 2012 abgelehnt.
Der Neffe hatte einige Mühe, einen Priester zu finden, der den Onkel kirchlich beerdigt. Schließlich erbarmte sich ein Geistlicher aus einem Nachbarort. Im Trauergottesdienst bezeichnete er den Verstorbenen als „verdorbenen Bruder Edmund“. Was bei den anwesenden Vertretern der Studentenverbindungen einigen Unmut auslöste. Begraben wurde Dillinger schließlich auf dem Friedhof in Friedrichsthal, weitab von dem Ort, wo Priester üblicherweise ihre letzte Ruhe finden.
Die Corps-Studenten hatten immerhin ihre Verbindung zu Dillinger Ende 2022 nochmals dokumentiert. Und das Bistum? Schwieg ihn tot, wie seit Jahrzehnten. Hätte es jemals geredet, wenn der Neffe nicht die Kisten mit den Filmen im Haus gefunden hätte? „Ich weiß es nicht. Ich will jedenfalls, dass die Wahrheit ans Licht kommt, und das Bistum soll eine Chance haben, sich zu erklären“, sagt Steffen Dillinger.
Erklärungen. Sie sind das, was auch dem Neffen helfen würde, alles einzuordnen. Wie kann es sein, dass trotz einschlägiger Hinweise über Jahrzehnte niemand etwas bemerkt haben will oder bemerkt hat? Und wie kann es sein, dass die katholische Kirche immer wieder Menschen wie Edmund Dillinger in den Reihen ihrer Offiziellen hat? Wenn es überhaupt Erklärungen dafür gibt, dann sind sie vermutlich alles andere als einfach oder angenehm. Macht Gelegenheit Diebe? Hatten die Jungen eine Chance gegen ein erwachsenes Mitglied einer Organisation, die es versteht, Macht über Menschen auszuüben?
Die Antwort des Bistums Trier stand eine ganze Weile aus. Erst nach mehrfacher Anfrage der Rhein-Zeitung kam sie schließlich doch. Steffen Dillinger will dem Bistum trotz aller eigenen Erschütterung bewusst die Gelegenheit einer möglichen exemplarischen Aufarbeitung geben. „Es geht mir nicht darum, meinen Onkel vom Thron des Ehrendomherren zu stoßen. Die Einblicke, die mir alle gefundenen Dokumente in das System der katholischen Kirche im Bistum Trier bis zum Vatikan ermöglicht haben, zeigen mir, dass es endgültig an der Zeit ist, dieses aufzudecken und bestenfalls eine Änderung herbeizuführen. Auch der Umgang mit den Tätern, die einfach fallen gelassen werden, ist so alles andere als hinnehmbar.“