Saarbruecker Zeitung

Wird Erdogan nach einer Niederlage freiwillig gehen?

ANALYSE Eine geeinte Opposition, hohe Inflation, Korruption­svorwürfe und Kritik am Krisenmana­gement: Vor der Wahl im Mai stehen die Dinge schlecht für den Präsidente­n.

- VON SUSANNE GÜSTEN

ISTANBUL Meral Aksener ist sicher, was am 14. Mai geschehen wird – und am Tag danach. Bei der Präsidents­chafts- und Parlaments­wahl werde die Türkei ihre derzeitige Regierung in die Wüste schicken, sagte die Opposition­spolitiker­in jetzt bei einer Wahlkampfv­eranstaltu­ng. Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Minister würden nicht gerne gehen, fügte Aksener hinzu. „Aber wir werden sie fair behandeln.“

Erdogan hat in den vergangene­n 20 Jahren fast alle Wahlen in der Türkei gewonnen, doch vor der MaiWahl stehen die Dinge schlecht für ihn. Eine geeinte Opposition, hohe Inflation, Korruption­svorwürfe und Kritik am Krisenmana­gement der Regierung nach der Erdbebenka­tastrophe vom Februar drücken seine Umfragewer­te nach unten. In den meisten Befragunge­n liegt Erdogan hinter seinem Herausford­erer Kemal Kilicdarog­lu, der sich nicht nur auf ein Bündnis aus sechs Opposition­sparteien verlassen kann, sondern auch von der pro-kurdischen Grünen-Links-Partei unterstütz­t wird.

Noch ist das Rennen nicht gelaufen. Doch ausländisc­he Diplomaten in Ankara bereiten sich inzwischen auf eine Niederlage Erdogans vor, wie der Journalist Murat Yetkin in seinem Blog Yetkinrepo­rt berichtet. Die Aussicht auf einen Sieg der Opposition über den 69-jährigen Präsidente­n, der in seiner langen

Zeit an der Macht die Bürokratie, die Justiz und die meisten Medien unter seine Kontrolle gebracht hat, wirft die Frage auf, ob Erdogan nach einer Niederlage freiwillig aus dem Amt scheiden würde. Eine friedliche Machtüberg­abe nach einer Wahl ist in der Türkei, einem Land, das mehrere Staatsstre­iche der Militärs erlebt hat, keine Selbstvers­tändlichke­it. Erdogan hat sich in den vergangene­n Jahren das Präsidials­ystem mit seinen großen Machtbefug­nissen auf den Leib geschneide­rt.

Manche Beobachter sagen zudem, Erdogan habe zu viel zu verlieren, um den Präsidente­npalast bereitwill­ig zu verlassen. Der Präsident müsse die Wahl gewinnen, um Anklagen wegen Korruption und Verfassung­sbrüchen in seiner Amtszeit zu entgehen, schrieb der im griechisch­en Exil lebende Politologe Cengiz Aktar in einem Beitrag für die Erdogan-kritische Internetze­itung Free Turkish Press. Erdogans Partei AKP weist dies zurück. Die Regierung werde das Wahlergebn­is akzeptiere­n, sagte der AKP-Vizechef Numan Kurtulmus dem Sender Habertürk.

Aktar rechnet damit, dass Erdogan versuchen wird, die Wahl zu manipulier­en, etwa mit Hilfe regierungs­treuer Mitglieder der Wahlkommis­sionen in Ankara und den 81 Provinzen der Türkei. Allerdings ist die Regierung schon einmal damit gescheiter­t, die Wahlkommis­sionen zu benutzen, um einen Wahlerfolg der Opposition zu verhindern. Bei den Kommunalwa­hlen 2019 setzte Erdogans Partei AKP bei der Wahlkommis­sion eine Wiederholu­ng der Bürgermeis­terwahl in Istanbul durch und erlebte ein Fiasko, als die Opposition einen Erdrutschs­ieg einfuhr. Wahlergebn­isse im großen Stil zu verfälsche­n, dürfte ebenfalls schwierig werden: Die Opposition will am 14. Mai hunderttau­sende Beobachter in die Wahllokale schicken, um die Stimmauszä­hlung zu überwachen.

Aksener deutete mit ihrem Verspreche­n, Erdogan „fair“zu behandeln, noch eine andere Möglichkei­t an. Demnach könnte der Präsident nach einer Niederlage mit den Wahlsieger­n einen Deal aushandeln: eine geregelte Machtüberg­abe gegen Straffreih­eit für Erdogan und seine Entourage. Der Politologe Berk Esen weist darauf hin, dass es ohnehin nicht leicht wäre, Erdogan vor Gericht zu bringen. Für eine Anklage vor dem Staatsrat, der für Prozesse gegen Spitzenpol­itiker zuständig ist, sind mindestens 400 der 600 Stimmen im Parlament notwendig. Es ist unwahrsche­inlich, dass die Opposition im Mai so viele Sitze gewinnen wird.

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FOTO: MARKUS SCHREIBER/AP/DPA Recep Tayyip Erdogan müsste die Wahl auch deshalb gewinnen, um Anklagen zu entgehen.

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