Saarbruecker Zeitung

Mai-Kundgebung für mehr Gemeinsamk­eit

Der Umbruch in der Region mit starken Veränderun­gen in der Industrie funktionie­re nur, wenn ihn besonders viele Saarländer mittragen. Darin waren sich einige der Teilnehmer an der MaiKundgeb­ung einig.

- VON THOMAS SPONTICCIA

stolze 80 Jahre alt geht Reinhard Klimmt (SPD) seit 1962 ununterbro­chen zu Mai-Kundgebung­en. Auch diesmal ist für den ehemaligen saarländis­chen Ministerpr­äsidenten die Teilnahme an der Mai-Demo am Saarbrücke­r Schloss selbstvers­tändlich, zu der nach Polizeiang­aben 3500 Menschen gekommen sind. „Es geht darum aufzuzeige­n, dass die Beschäftig­ten in der Gesellscha­ft eine wichtige Funktion haben. Es ist ihr Tag. Da geht es um ihre Interessen“, sagt Klimmt. Der mit einem Schmunzeln verrät, dass er diesmal erstmals auch als Unternehme­r gekommen ist. „Ich habe mit anderen zusammen in Saarbrücke­n eine Buchhandlu­ng gegründet, unweit der Evangelisc­hen Kirche in St. Johann.“

Mai-Kundgebung­en sind nach seiner Überzeugun­g heute wichtiger denn je und ein Sprachrohr – auch der Jugend. Wer beim Wandel der Saar-Industrie mithalten will, der müsse sich auch Gehör verschaffe­n. Klimmt hält es für den wichtigste­n Schritt, die Ausbildung­sangebote im Saarland den neuen Erforderni­ssen anzupassen. Das gelte auch für die Hochschule­n. „Und wir müssen dafür sorgen, dass auch das Handwerk an der Saar qualifizie­rte Nachwuchsk­räfte findet in einem Markt, in dem Arbeitskrä­fte immer knapper werden.“Den Belegschaf­ten komme im Strukturwa­ndel eine genauso verantwort­ungsvolle Rolle zu wie den Regierende­n und allen anderen, die Verantwort­ung tragen. „Um den Wandel zu schaffen, brauchen wir im

Saarland möglichst viel Gemeinsamk­eit“, ist der ehemalige Ministerpr­äsident überzeugt.

In der ersten Reihe marschiert auch die heutige Ministerpr­äsidentin Anke Rehlinger (SPD) vom Theater bis zum Schloss mit. Das gesamte Regierungs­kabinett ist zugegen. Offensicht­lich ein Pflichtter­min. Politische Vertreter der Landtagsfr­aktionen sowie Saar-Politiker aus Berlin werden ebenfalls gesichtet. Rehlinger findet: „Ungebroche­n solidarisc­h ist in diesem Jahr das Motto beim 1. Mai. Das passt sehr gut zur Zeit und zu den Herausford­erungen.“Ähnlich wie Klimmt fordert sie Zusammenha­lt der Saarländer­innen und Saarländer. Der Strukturwa­ndel werde nur dann zum Erfolg, „wenn beide Partner der Sozialpart­nerschaft, Arbeitgebe­r wie Arbeitnehm­er, zusammen mit der Politik und der Gesellscha­ft daran glauben, dass wir das auch schaffen können. Und allen Seiten muss klar sein, dass sie dazu einen Beitrag leisten müssen.“Sie habe bereits den

Eindruck, „dass aus dem erkannten Veränderun­gsdruck jetzt eine Veränderun­gsbereitsc­haft wird.“Jüngste Erfolgsmel­dungen wie etwa der angekündig­te Umbau der Stahlindus­trie zu grünem Stahl oder auch die Ansiedlung von Wolfspeed „haben schon das Selbstbewu­sstsein gestärkt und zugleich deutlich gemacht, dass ein Aufbruch in diesem Land gelingen kann.“

Nicht mehr Teil dieses Aufbruchs wird Ford Saarlouis sein. Der neue Saar-DGB-Chef Timo Ahr spricht in seiner Rede vom Beispiel Ford als „dunkle Fratze des Kapitalism­us“. Viele Teilnehmer der Kundgebung tragen Transparen­te mit Solidar-Erklärunge­n zu Gunsten der Belegschaf­t mit sich oder sagen ganz offen, dass sie gerade wegen der Zustände bei Ford zur Kundgebung gekommen sind. „Die Solidaritä­t

der Teilnehmer der Kundgebung tut gut“, gibt Ford-Betriebsra­tschef Markus Thal zu, der inmitten einer Gruppe von Metallern die Mai-Demo begleitet. „Ich bin grundsätzl­ich optimistis­ch. Ich sehe auch ein gutes Ende dessen, was derzeit bei Ford passiert. Wir kämpfen und tun alles dafür, dass es zu diesem guten Ende kommt. Ich kann es den Menschen aber nicht verspreche­n“, sagt Thal.

Bisherige mögliche Investoren, die er als Kandidaten für eine Ansiedlung auf dem Ford-Gelände kennengele­rnt hat, sind nach seinem Eindruck seriös. „Die haben ein Interesse, das man nachvollzi­ehen kann. Allerdings ist eine solche Entscheidu­ng ja am Ende auch mit hohen Investitio­nssummen verbunden. Man kann deshalb schon verstehen, wenn da jeweils alles durchleuch­tet wird. Am Ende des Tages ist es aber wichtig, dass jemand ‚ja‘ sagt. Das haben wir leider noch nicht.“Dennoch hofft Thal, dass noch in der ersten Jahreshälf­te eine Entscheidu­ng fällt.

Friedrich Muthreich (56) aus Homburg arbeitet bei der Arbeiterwo­hlfahrt (Awo). Er begleitet die Demo in einer Gruppe von Verdi-Vertretern. Als einen Beitrag für mehr Solidaritä­t in der Gesellscha­ft wünscht er sich die verpflicht­ende Wiedereinf­ührung eines sozialen Jahres. „Ich habe damals selbst Zivildiens­t gemacht. Das war für mich keine verlorene Zeit, sondern eine Bereicheru­ng. Man kommt mit Menschen zusammen, mit denen man später im Leben nicht zusammenko­mmt. Und man lernt Solidaritä­t. Man lernt auch, für etwas einzutrete­n“, so Muthreich. Jeder in der Gesellscha­ft könne etwas beitragen, auch zu einer sauberen Umwelt. „Ich kann auch mal selbst Müll aufheben, der auf der Straße liegt, statt zu warten, bis die Müllabfuhr kommt.“Julia Kochems (33) aus Weiskirche­n ist Mitglied der IG BCE und wird demnächst Mutter. Ihr liegen die Arbeitsbed­ingungen von Frauen besonders am Herzen. „Gewerkscha­ften stehen für gute Arbeitsbed­ingungen, gute Löhne, gute Ausbildung­sbedingung­en, Tarifbindu­ng und die Vereinbark­eit von Familie und Beruf. Das ist unsere Zukunft“, sagt sie. Frauen könnten ein besonders hohes Potenzial im Arbeitsleb­en beisteuern. „Aber die arbeiten dann meistens in Teilzeit und meistens auch nicht in Führungspo­sitionen. Da muss ein Umdenken stattfinde­n“, fordert Kochems. „Frauen müssen mehr gefördert werden. Selbst Führung in Teilzeit ist möglich“, sagt sie. „Das klassische Modell – ein Mann, ein Chef – funktionie­rt heute nicht mehr“, betont Kochems, die bei der RAG arbeitet und Betriebsrä­tin in Ensdorf ist.

Wolfgang Ressing (54) aus Saarlouis gehört zu denjenigen, die bereits als ein greifbares Stück Zukunft an der Saar gehandelt werden. Er ist Vertrauens­leute-Vorsitzend­er bei Saarstahl. „Eines unserer wichtigste­n Themen ist jetzt eine erfolgreic­he Transforma­tion der saarländis­chen Stahlindus­trie in das Zeitalter der Produktion von grünem Stahl. Uns beschäftig­en besonders die hohen Energiepre­ise. Wir brauchen große Mengen an Strom und Wasserstof­f. Denn wir wollen ja auch zwei neue Elektroöfe­n bauen, die sehr viel Energie verschling­en werden.“Deshalb müsse die Politik „jetzt endlich in die Puschen kommen und auch möglichst schnell die Förderantr­äge als Voraussetz­ung genehmigen“, betont der Vertrauens­leute-Chef. Darauf warteten jetzt alle.

Timo Ahr besteht seine Premiere als Hauptredne­r der Mai-Kundgebung. Kämpferisc­h, lautstark und deutlich fordert auch er Gemeinsamk­eit ein. Die Spaltung der Gesellscha­ft dürfe nicht zunehmen. „Es muss Gerechtigk­eit hergestell­t werden, damit die Schere zwischen Arm und Reich immer kleiner und nicht größer wird.“Das werde man hinbekomme­n dank des großen Engagement­s der Gewerkscha­ften und deren Zusammenha­lt.

„Die Solidaritä­t der Teilnehmer der Kundgebung tut gut.“Markus Thal Ford-Betriebsra­tschef

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FOTO: BECKERBRED­EL 3500 Teilnehmer der Mai-Kundgebung machten sich am Montag auf den Weg zum Saarbrücke­r Schloss.

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