Mai-Kundgebung für mehr Gemeinsamkeit
Der Umbruch in der Region mit starken Veränderungen in der Industrie funktioniere nur, wenn ihn besonders viele Saarländer mittragen. Darin waren sich einige der Teilnehmer an der MaiKundgebung einig.
stolze 80 Jahre alt geht Reinhard Klimmt (SPD) seit 1962 ununterbrochen zu Mai-Kundgebungen. Auch diesmal ist für den ehemaligen saarländischen Ministerpräsidenten die Teilnahme an der Mai-Demo am Saarbrücker Schloss selbstverständlich, zu der nach Polizeiangaben 3500 Menschen gekommen sind. „Es geht darum aufzuzeigen, dass die Beschäftigten in der Gesellschaft eine wichtige Funktion haben. Es ist ihr Tag. Da geht es um ihre Interessen“, sagt Klimmt. Der mit einem Schmunzeln verrät, dass er diesmal erstmals auch als Unternehmer gekommen ist. „Ich habe mit anderen zusammen in Saarbrücken eine Buchhandlung gegründet, unweit der Evangelischen Kirche in St. Johann.“
Mai-Kundgebungen sind nach seiner Überzeugung heute wichtiger denn je und ein Sprachrohr – auch der Jugend. Wer beim Wandel der Saar-Industrie mithalten will, der müsse sich auch Gehör verschaffen. Klimmt hält es für den wichtigsten Schritt, die Ausbildungsangebote im Saarland den neuen Erfordernissen anzupassen. Das gelte auch für die Hochschulen. „Und wir müssen dafür sorgen, dass auch das Handwerk an der Saar qualifizierte Nachwuchskräfte findet in einem Markt, in dem Arbeitskräfte immer knapper werden.“Den Belegschaften komme im Strukturwandel eine genauso verantwortungsvolle Rolle zu wie den Regierenden und allen anderen, die Verantwortung tragen. „Um den Wandel zu schaffen, brauchen wir im
Saarland möglichst viel Gemeinsamkeit“, ist der ehemalige Ministerpräsident überzeugt.
In der ersten Reihe marschiert auch die heutige Ministerpräsidentin Anke Rehlinger (SPD) vom Theater bis zum Schloss mit. Das gesamte Regierungskabinett ist zugegen. Offensichtlich ein Pflichttermin. Politische Vertreter der Landtagsfraktionen sowie Saar-Politiker aus Berlin werden ebenfalls gesichtet. Rehlinger findet: „Ungebrochen solidarisch ist in diesem Jahr das Motto beim 1. Mai. Das passt sehr gut zur Zeit und zu den Herausforderungen.“Ähnlich wie Klimmt fordert sie Zusammenhalt der Saarländerinnen und Saarländer. Der Strukturwandel werde nur dann zum Erfolg, „wenn beide Partner der Sozialpartnerschaft, Arbeitgeber wie Arbeitnehmer, zusammen mit der Politik und der Gesellschaft daran glauben, dass wir das auch schaffen können. Und allen Seiten muss klar sein, dass sie dazu einen Beitrag leisten müssen.“Sie habe bereits den
Eindruck, „dass aus dem erkannten Veränderungsdruck jetzt eine Veränderungsbereitschaft wird.“Jüngste Erfolgsmeldungen wie etwa der angekündigte Umbau der Stahlindustrie zu grünem Stahl oder auch die Ansiedlung von Wolfspeed „haben schon das Selbstbewusstsein gestärkt und zugleich deutlich gemacht, dass ein Aufbruch in diesem Land gelingen kann.“
Nicht mehr Teil dieses Aufbruchs wird Ford Saarlouis sein. Der neue Saar-DGB-Chef Timo Ahr spricht in seiner Rede vom Beispiel Ford als „dunkle Fratze des Kapitalismus“. Viele Teilnehmer der Kundgebung tragen Transparente mit Solidar-Erklärungen zu Gunsten der Belegschaft mit sich oder sagen ganz offen, dass sie gerade wegen der Zustände bei Ford zur Kundgebung gekommen sind. „Die Solidarität
der Teilnehmer der Kundgebung tut gut“, gibt Ford-Betriebsratschef Markus Thal zu, der inmitten einer Gruppe von Metallern die Mai-Demo begleitet. „Ich bin grundsätzlich optimistisch. Ich sehe auch ein gutes Ende dessen, was derzeit bei Ford passiert. Wir kämpfen und tun alles dafür, dass es zu diesem guten Ende kommt. Ich kann es den Menschen aber nicht versprechen“, sagt Thal.
Bisherige mögliche Investoren, die er als Kandidaten für eine Ansiedlung auf dem Ford-Gelände kennengelernt hat, sind nach seinem Eindruck seriös. „Die haben ein Interesse, das man nachvollziehen kann. Allerdings ist eine solche Entscheidung ja am Ende auch mit hohen Investitionssummen verbunden. Man kann deshalb schon verstehen, wenn da jeweils alles durchleuchtet wird. Am Ende des Tages ist es aber wichtig, dass jemand ‚ja‘ sagt. Das haben wir leider noch nicht.“Dennoch hofft Thal, dass noch in der ersten Jahreshälfte eine Entscheidung fällt.
Friedrich Muthreich (56) aus Homburg arbeitet bei der Arbeiterwohlfahrt (Awo). Er begleitet die Demo in einer Gruppe von Verdi-Vertretern. Als einen Beitrag für mehr Solidarität in der Gesellschaft wünscht er sich die verpflichtende Wiedereinführung eines sozialen Jahres. „Ich habe damals selbst Zivildienst gemacht. Das war für mich keine verlorene Zeit, sondern eine Bereicherung. Man kommt mit Menschen zusammen, mit denen man später im Leben nicht zusammenkommt. Und man lernt Solidarität. Man lernt auch, für etwas einzutreten“, so Muthreich. Jeder in der Gesellschaft könne etwas beitragen, auch zu einer sauberen Umwelt. „Ich kann auch mal selbst Müll aufheben, der auf der Straße liegt, statt zu warten, bis die Müllabfuhr kommt.“Julia Kochems (33) aus Weiskirchen ist Mitglied der IG BCE und wird demnächst Mutter. Ihr liegen die Arbeitsbedingungen von Frauen besonders am Herzen. „Gewerkschaften stehen für gute Arbeitsbedingungen, gute Löhne, gute Ausbildungsbedingungen, Tarifbindung und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das ist unsere Zukunft“, sagt sie. Frauen könnten ein besonders hohes Potenzial im Arbeitsleben beisteuern. „Aber die arbeiten dann meistens in Teilzeit und meistens auch nicht in Führungspositionen. Da muss ein Umdenken stattfinden“, fordert Kochems. „Frauen müssen mehr gefördert werden. Selbst Führung in Teilzeit ist möglich“, sagt sie. „Das klassische Modell – ein Mann, ein Chef – funktioniert heute nicht mehr“, betont Kochems, die bei der RAG arbeitet und Betriebsrätin in Ensdorf ist.
Wolfgang Ressing (54) aus Saarlouis gehört zu denjenigen, die bereits als ein greifbares Stück Zukunft an der Saar gehandelt werden. Er ist Vertrauensleute-Vorsitzender bei Saarstahl. „Eines unserer wichtigsten Themen ist jetzt eine erfolgreiche Transformation der saarländischen Stahlindustrie in das Zeitalter der Produktion von grünem Stahl. Uns beschäftigen besonders die hohen Energiepreise. Wir brauchen große Mengen an Strom und Wasserstoff. Denn wir wollen ja auch zwei neue Elektroöfen bauen, die sehr viel Energie verschlingen werden.“Deshalb müsse die Politik „jetzt endlich in die Puschen kommen und auch möglichst schnell die Förderanträge als Voraussetzung genehmigen“, betont der Vertrauensleute-Chef. Darauf warteten jetzt alle.
Timo Ahr besteht seine Premiere als Hauptredner der Mai-Kundgebung. Kämpferisch, lautstark und deutlich fordert auch er Gemeinsamkeit ein. Die Spaltung der Gesellschaft dürfe nicht zunehmen. „Es muss Gerechtigkeit hergestellt werden, damit die Schere zwischen Arm und Reich immer kleiner und nicht größer wird.“Das werde man hinbekommen dank des großen Engagements der Gewerkschaften und deren Zusammenhalt.
„Die Solidarität der Teilnehmer der Kundgebung tut gut.“Markus Thal Ford-Betriebsratschef