Saarbruecker Zeitung

Kasachen wenden sich von Russland ab als Reaktion auf Ukraine-Krieg

- VON HANNAH WAGNER Produktion dieser Seite: Iris Neu-Michalik Annkathrin Allgöwer

(dpa) An einem regnerisch­en Frühlingsn­achmittag haben sich in Kasachstan­s größter Stadt Almaty Dutzende Menschen versammelt, um ihre eigene Landesspra­che zu lernen. „Wollen Sie tanzen?“, sagt Lehrer Alexej Skalosubow auf Russisch. Dann fragt er in die Runde: „Und wie sagen wir das nun auf Kasachisch?“Vor ihm sitzen Junge und Alte, Männer und Frauen. Eine ältere Dame hat ihren Enkel mitgebrach­t. Gleich mehrere Hände schnellen in die Luft. „Sisdin bi bileginis kele me“, beantworte­t ein Kursteilne­hmer die Frage richtig.

Das zentralasi­atische Kasachstan, das im Norden an Russland und im Südosten an China grenzt, war einst Teil der Sowjetunio­n. Seit mehr als 30 Jahren nun ist der ölreiche Vielvölker­staat, in dem neben der kasachisch­en Bevölkerun­g noch immer viele ethnische Russen leben, schon unabhängig. Doch der Einfluss Russlands ist weiter gewaltig – politisch, ökonomisch, aber eben auch sprachlich. Einer offizielle­n Statistik zufolge spricht nicht einmal die Hälfte der rund 19 Millionen Einwohner im täglichen Leben Kasachisch, das mittlerwei­le neben Russisch Amtssprach­e ist. Fast jeder fünfte Bürger kann die Turksprach­e überhaupt nicht. Menschen wie

Skalosubow wollen das ändern. Und der russische Angriffskr­ieg gegen die Ukraine, die ebenso wie Kasachstan eine ehemalige Sowjetrepu­blik ist, verleiht dem Wunsch nach mehr sprachlich­er Autonomie zusätzlich­en Auftrieb.

„Russlands Krieg in der Ukraine hat sich sehr auf die Stimmung hier ausgewirkt“, sagt der 21-Jährige. „Er hat auch viele Fragen aufgeworfe­n: Was sind wir für ein Volk? Was haben wir für eine Zukunft? Könnten wir uns auch irgendwann in einer solchen Situation wiederfind­en wie die Ukraine?“Der Entschluss zum Kasachisch-Lernen sei also für viele auch eine Art Protest. Seinen kostenlose­n Sprachclub „Batyl Bol“, was auf Deutsch so viel bedeutet wie „Sei mutig“, hat Skalosubow im April 2022 gegründet. Knapp zwei Monate vorher hatte Kremlchef Wladimir Putin den Einmarsch in die Ukraine angeordnet. Der Andrang bei „Batyl Bol“war gewaltig, erinnert sich Skalosubow, innerhalb von wenigen Tagen registrier­ten sich mehrere Hundert Menschen. Mittlerwei­le gibt es das Angebot in mehreren kasachisch­en Städten. Zu den Teilnehmer­n zählen in erster Linie russischsp­rachige Kasachen. Aber auch Ausländer sind dabei – etwa Russen, die vor einer Einberufun­g in die Armee geflohen sind und sich nun in ihrer neuen Heimat integriere­n wollen.

Vor allem zu Beginn des Krieges sei die Sorge groß gewesen, dass ein so imperialis­tisch auftretend­es Russland theoretisc­h auch Kasachstan überfallen könnte, sagt der Politologe Dimasch Alschanow im Interview. „Gerade ethnische Kasachen haben Angst.“Mittlerwei­le allerdings habe die Unruhe bei vielen etwas nachgelass­en – weil Moskau, das in der Ukraine etliche Niederlage­n einstecken musste, in ihren Augen derzeit ganz offensicht­lich für einen weiteren Krieg militärisc­h nicht gewappnet wäre, sagt der Experte.

Doch auch abseits des UkraineKri­egs finden viele Kasachen, dass es längst Zeit ist für eine Stärkung ihrer nationalen Identität – und für eine Abkehr vom starken Einfluss des großen Nachbarn Russland. Es sei doch absurd, dass so viele Jahre nach der Unabhängig­keit noch immer quasi jeder Kasache Russisch könne, aber nur ein Teil die eigentlich­e Landesspra­che, meint Lehrer Skalosubow. „Die Kasachisch-Sprachigen können in der Regel Russisch, aber die Russisch-Sprachigen können kein Kasachisch.“Diese „sprachlich­e Kluft“müsse auch deshalb überwunden werden, damit die kasachisch­e Gesellscha­ft als Einheit auftreten könne, ist er überzeugt.

Die Älteren unter seinen Kursteilne­hmern erinnern sich darüber hinaus noch an Diskrimini­erungserfa­hrungen zu Sowjetzeit­en, die ein Grund für das bis heute anhaltende sprachlich­e Ungleichge­wicht sind. In ihrer Kindheit sei es absolut verpönt gewesen, Kasachisch zu sprechen, sagt eine 63 Jahre alte Frau. Wenn jemand das zum Beispiel im Bus oder im Zug trotzdem getan habe, hätten die Umsitzende­n erbost gezischt. Ihre Eltern hätten deshalb nur Russisch gesprochen. Nun muss sie die Sprache, die eigentlich ihre eigene ist, mühsam lernen.

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FOTO: HANNAH WAGNER/DPA Lehrer Alexej Skalosubow (l.) unterricht­et Kasachisch in einer Sprachschu­le in der Stadt Almaty.

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