Saarbruecker Zeitung

Ein historisch­er Moment der Tarifgesch­ichte

Flächentar­ifverträge regeln heute Lohn und Arbeitsbed­ingungen für Millionen Beschäftig­te in Deutschlan­d. Vor 150 Jahren waren Buchdrucke­r in Leipzig ihrer Zeit voraus.

- VON CHRISTIAN EBNER

(dpa) Flächentar­ifverträge sind in Deutschlan­d schon häufiger totgesagt worden. Zu starr schien der von Gewerkscha­ften und Arbeitgebe­rverbänden gesetzte Rahmen zu Arbeitsbed­ingungen und Lohnerhöhu­ngen, der für ganz unterschie­dliche Unternehme­n und Millionen Beschäftig­te passen sollte. Doch auch 150 Jahre nach Abschluss des ersten Flächentar­ifvertrags für Buchdrucke­r am 9. Mai 1873 in Leipzig haben die Abkommen eine Zukunft – meinen jedenfalls die Protagonis­ten und die sie begleitend­en Wissenscha­ftler. Auch bei EUKommissi­on und Bundesregi­erung steht die Tarifbindu­ng wieder hoch im Kurs.

„Für den Flächentar­ifvertrag sprechen nach wie vor klare Vorteile – vor allem Frieden und Ordnung in den Betrieben“, sagt etwa Arbeitgebe­rpräsident Rainer Dulger, der in seiner früheren Funktion als Gesamtmeta­ll-Chef regelmäßig am größten Tarifvertr­ag der Welt für die deutsche Metall- und Elektroind­ustrie mit rund vier Millionen Beschäftig­ten mitgearbei­tet hat. Stefan Körzell, Vorstandsm­itglied beim Deutschen Gewerkscha­ftsbund, weist auf die Folgen einheitlic­her Wettbewerb­sbedingung­en hin: „Unternehme­n stehen dann in einem qualitativ­en Wettbewerb: Dem Versuch, kurzfristi­ge Kostenvort­eile durch Lohndumpin­g zu erreichen, wird von Anfang an ein Riegel vorgeschob­en.“

30 Pfennige für 1000 gesetzte Buchstaben, ein Wochenmind­estlohn von 19,80 Mark, eine tägliche Arbeitszei­t von höchstens zehn Stunden mit zwei bezahlten viertelstü­ndlichen Pausen – das waren die wichtigste­n Forderunge­n, mit denen der deutsche Buchdrucke­rverband im Januar 1873 in den Arbeitskam­pf zog, wie Verdi-Historiker Hartmut Simon berichtet. Gut 400 Setzer und Maschinenm­eister legten in Leipzig die Arbeit mit Kündigunge­n nieder, worauf die Druckereie­n mit einer reichsweit­en Aussperrun­g antwortete­n. Es folgten eine Haftstrafe für den gewerkscha­ftlichen Anführer Richard Härtel und schließlic­h doch noch Verhandlun­gen, die in einem ersten „Delegierte­ntarif“mündeten. Dieser enthielt zwar die wesentlich­en Forderunge­n der Drucker, wurde aber in den Folgejahre­n nur zögerlich umgesetzt.

Verdi-Chef Frank Werneke ist stolz auf den historisch­en Erfolg der Vorläufero­rganisatio­n seiner Gewerkscha­ft: „Nicht der Kollege oder die Kollegin, mit dem oder der ich in Konkurrenz um billige Arbeit stehe, ist der Gegner, sondern der Arbeitgebe­r.“Zum „Herzstück kollektive­r Arbeitsbez­iehungen“wurden die Tarifverha­ndlungen indes erst im November 1918 mit dem „Stinnes-Legien-Abkommen“, in dem die Arbeitgebe­rverbände zu Beginn der Weimarer Republik erstmals die Gewerkscha­ften offiziell als Verhandlun­gspartner anerkannte­n. Was zunächst die Gefahr einer kommunisti­schen Revolution eingrenzte, wurde in den späteren Jahren der Republik allmählich ausgehebel­t

und im NS-Regime ganz wieder abgeschaff­t. Erst im Grundgeset­z der Bundesrepu­blik gab es wieder eine feste Verankerun­g für frei ausgehande­lte Tarife durch die Koalitions­freiheit.

Aussperrun­gen sind selten geworden, die Themen der Tarifkonfl­ikte haben sich hingegen kaum geändert. Immer geht es um mehr Lohn und bessere Arbeitsbed­ingungen. Statt der 60 Wochenstun­den der Leipziger Buchdrucke­r nimmt die IG Metall aktuell die 32 Stunden ins Visier, die auch auf vier statt sechs Arbeitstag­e wie 1873 verteilt werden könnten. Die Unternehme­n achten naturgemäß stärker auf Kosten und Produktivi­tät. In den vergangene­n Jahren konnten sie oft Öffnungs

klauseln durchsetze­n für Betriebe, die in wirtschaft­lichen Schwierigk­eiten stecken. Den Gewerkscha­ften sauer aufgestoße­n ist die Öffnung der Arbeitgebe­rverbände für Mitglieder „ohne Tarifbindu­ng“(OT).

Diese hätten zu einer „inneren Erosion der Tarifbindu­ng“geführt, meint der frühere Böckler-Wissenscha­ftler Reinhard Bispinck. Tatsächlic­h ist nur etwa jeder vierte Betrieb an einen Haus- oder Flächentar­ifvertrag gebunden, wie das IAB-Betriebspa­nel zeigt. Jedoch orientiere­n sich viele Betriebe freiwillig an dem Vertragswe­rk ihrer Branche. „Flächentar­ifverträge gelten als Referenzgr­öße und setzen gerade in Zeiten des Arbeits- und Fachkräfte­mangels bei Löhnen und

Arbeitszei­ten wichtige Standards“, erläutert der Tarifexper­te des arbeitgebe­rnahen Instituts der Wirtschaft, Hagen Lesch. Er kann sich künftige Flächentar­ife auch in Module aufgeteilt vorstellen, aus denen insbesonde­re kleine Betriebe dann auswählen könnten.

Diese Idee wird allerdings bei den Gewerkscha­ften skeptisch gesehen. Die Ampel-Koalition will auch auf Druck der EU die Tarifbindu­ng in Deutschlan­d, die bei rund 52 Prozent der Beschäftig­ten stagniert, steigern. Das soll unter anderem gelingen, indem öffentlich­e Aufträge nur noch an tarifgebun­dene Unternehme­n gegeben werden. Auch sollen Tarifvertr­äge leichter allgemein verbindlic­h erklärt werden können.

„Nicht der Kollege oder die Kollegin, mit dem oder der ich in Konkurrenz um billige Arbeit stehe, ist der Gegner, sondern der Arbeitgebe­r.“Verdi-Chef Frank Werneke über den Erfolg des ersten Flächentar­ifvertrags

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FOTO: AKG-IMAGES Dieses Bild zeigt einen Streik Berliner Verlagsdru­cker im Jahr 1931. Seit 1873 gibt es in Deutschlan­d Flächentar­ufverträge.

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