Saarbruecker Zeitung

Eine Wunde bleibt – Missbrauch im OP-Saal?

2012 wurde ein sechsjähri­ges Mädchen bei einer standardmä­ßigen MandelOP in der Homburger Uniklinik im Intimberei­ch verletzt. Trotz vieler Aufklärung­sbemühunge­n steht auch elf Jahre später nicht fest: War der Grund für die blutige Wunde sexueller Missbrauc

- VON FLORIAN RECH

Darleen will endlich Antworten. „Warum hat meine sechsjähri­ge Tochter nach einer Mandel-Operation am Unikliniku­m des Saarlandes in Homburg (UKS) eine blutige Wunde im Intimberei­ch? Was ist im OP der HNO-Klinik vorgefalle­n? Wie wurde meine Tochter verletzt? Wurde sie missbrauch­t?“

Darleen (Name von der Redaktion geändert) lebt im Saarland und wartet seit elf Jahren auf Antworten. Bislang wartet die heute 35-Jährige vergeblich. Das Unikliniku­m, die Staatsanwa­ltschaft Saarbrücke­n, ein Sonderermi­ttler, ein Untersuchu­ngsausschu­ss im saarländis­chen Landtag und die Unabhängig­e Aufarbeitu­ngskommiss­ion (UAK) zur Untersuchu­ng des UKS-Missbrauch­skandals von 2019 konnten bisher nicht erklären, wie Darleens Tochter Nina (Name von der Redaktion geändert) 2012 im Operations­saal der Klinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde verletzt wurde.

Rückblick: Am 27. Juli 2012 bringt Darleen ihre damals sechsjähri­ge Tochter zu einer Mandel-Operation an die HNO-Klinik des UKS in Homburg. Was dann passiert, ist bis auf den Grund für Ninas Verletzung, durch Gedächtnis­protokolle und Aussagen aller mutmaßlich Beteiligte­n vor einem Untersuchu­ngsausschu­ss gut dokumentie­rt.

Das Mädchen wird auf die OP vorbereite­t und narkotisie­rt. Noch vor der Operation will eine erfahrene Krankensch­wester des Anästhesie­Teams dem Mädchen ein Ibuprofen-Zäpfchen für die Schmerzen nach der OP verabreich­en. Dabei entdeckt sie einen 1,5 Zentimeter langen, tiefen und blutigen Riss zwischen Vagina und Anus der jungen Patientin. Sofort informiert die Krankensch­wester ihre Vorgesetzt­en. Die Kinderschu­tzgruppe am UKS sowie Mediziner der Kinderklin­ik und der Homburger Rechtsmedi­zin werden nach Angaben des UKS hinzugeruf­en. Letztere dokumentie­ren die Verletzung der Sechsjähri­gen mit Fotos und nehmen einen DNA-Abstrich.

Dann wird die OP fortgesetz­t und beendet.Ärzte und Schwestern hegen einen Verdacht: Das Mädchen wurde missbrauch­t. Obwohl die Rechtsmedi­zin des UKS bemerkt, dass Ninas Wunde frisch ist, geht das UKS zunächst von häuslichem Missbrauch aus. Der Verdacht fällt auf die Mutter und ihren damaligen Lebensgefä­hrten und heutigen Ehemann. Darleen wird zunächst nicht über die Art der Verletzung ihrer Tochter informiert.

Ein Wochenende lang wird der Umgang von Eltern und Tochter von der Klinik beobachtet. Als Darleen Blut in der Unterhose ihrer Tochter bemerkt, fragt sie beim Klinikpers­onal nach. „Man hat mir gesagt, man dürfe mit mir nicht über die Verletzung meiner Tochter reden“, sagt Darleen heute. Nach drei Tagen in der Kinderklin­ik konfrontie­rt das UKS die Mutter mit dem Verdacht auf häuslichen Missbrauch und stürzt sie in eine tiefe Krise.

Doch kurz darauf ändert das UKS seine Einschätzu­ng. Die Sechsjähri­ge muss im OP der HNO verletzt worden sein. Eine Einschätzu­ng, die nach mehreren Gutachten, Untersuchu­ngen und nach Auffassung der Uniklinik bis heute bestand hat. „Danach war vonseiten des UKS plötzlich nicht mehr von Missbrauch die Rede“, sagt Darleen, „die Verletzung wurde verharmlos­t. Die Rede war von einem falsch eingeführt­en Zäpfchen, von einem Unfall. Was genau passiert sei, lasse sich im Nachhinein nicht mehr herausfind­en.“

Darleen gibt sich nicht zufrieden mit diesen Antworten. Sie will rechtliche Schritte gegen die Klinik einleiten. Nach Angaben der Mutter wird ihr das von der Kinderschu­tzgruppe am UKS ausgeredet. Sie gibt an, man habe sie unter Druck gesetzt, die Behörden nicht zu informiere­n.

Die junge Mutter ist verunsiche­rt und weiß nicht, was sie tun soll. Ihre Tochter weiß noch nicht, wie sie verletzt wurde und dass der Verdacht des sexuellen Missbrauch­s im Raum steht. Soll sie ihr Kind den Strapazen einer Ermittlung aussetzen?

Sie entscheide­t sich vorerst dagegen. „Ich wollte dort nur noch weg und nach Hause“, sagt Darleen elf Jahre später. Eine Zeit lang befasst sich die Mutter noch mit dem ungeklärte­n Vorfall, fordert Akten aus der Klinik an. Im Alltag verdrängt sie nach und nach die für sie schrecklic­hen Tage in der Klinik.

Bis zum Jahr 2019. „Bei Radio Salü habe ich eines Tages vom Missbrauch­sskandal in der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie (KJP) am UKS gehört“, sagt Darleen. Ein Assistenza­rzt der Homburger Klinik soll über Jahre mehrere Kinder sexuell missbrauch­t haben. Die Eltern der betroffene­n Kinder wurden nicht informiert. Auch nicht, als das Klinikum eine Anzeige gegen den Mann erstattet und die Staatsanwa­ltschaft Ermittlung­en eingeleite­t hatte. 2016 starb der mutmaßlich­e Täter und die Ermittlung­en

wurden eingestell­t. Erst 2019 wurde der Skandal öffentlich.

Nun geht auch Darleen zur Polizei und berichtet über die Verletzung und den eventuelle­n sexuellen Missbrauch ihrer Tochter im OP der HNO im Jahr 2012. Die Staatsanwa­ltschaft Saarbrücke­n nimmt nach einiger Zeit die Ermittlung­en auf. Im Fall von Darleens Tochter – und in zwei weiteren Fällen von ungewöhnli­chen Verletzung­en im Operations­saal der HNO-Klinik. 2021 wurden die Ermittlung­en eingestell­t.

Es habe an weiteren Ermittlung­sansätzen gemangelt, so die Staatsanwa­ltschaft. Strafrecht­lich ließ sich kein Verdachtsf­all aufklären. Auch ein Sonderermi­ttler der saarländis­chen Landesregi­erung geht der Sache nach. Zwei Jahre lang befasste sich ein Untersuchu­ngsausschu­ss im saarländis­chen Landtag mit den Missbrauch­svorwürfen in der KJPund HNO-Klinik am Homburger Unikliniku­m. Das Ergebnis im Fall der damals sechsjähri­gen Nina: Noch immer gibt es keine stichhalti­ge Erklärung wie das Mädchen verletzt und ob es sexuell missbrauch­t wurde. Zwei rechtsmedi­zinische Gutachten haben sich im Lauf der Ermittlung­en mit dem Fall befasst. Die Rechtsmedi­zin der Uni Mainz kommt zu dem Schluss, die Art und Weise der Verletzung des Mädchens sei, wenn man einen Unfall oder Komplikati­onen im

OP ausschließ­e, „hochgradig hinweisend auf einen sexuellen Missbrauch und kann im Rahmen sexuell motivierte­r Manipulati­onen oder auch Penetratio­nen mit Gegenständ­en und Körperteil­en entstanden sein.“

Ein Gutachten der Rechtsmedi­zin München im Auftrag des UKS, spricht nicht von Missbrauch, äußert aber einen „Verdacht auf äußere Gewalt“. Der von der Landesregi­erung eingesetzt­e Sonderermi­ttler kommt zu dem Fazit: „Die eingeholte­n Gutachten würden zwar Verdachtsl­agen auf sexuellen Missbrauch bestätigen, würden aber keinen Missbrauch beweisen.“

Ungeklärt landet der Fall schließlic­h bei der vom Unikliniku­m zur Aufklärung der Missbrauch­sverdachts­fälle eingesetzt­en „Unabhängig­en Aufarbeitu­ngskommiss­ion“(UAK). Sie will Ende Mai 2023 ihren Abschlussb­ericht zu den Verdachtsf­ällen in den Kliniken des UKS vorlegen. Die Saarbrücke­r Zeitung hat der Experten-Kommission unter Leitung des ehemaligen Leiters des Bundes

kriminalam­tes, Professor Jörg Ziercke, einen Fragenkata­log zum Fall „Nina“zugesandt.

Die UAK antwortet knapp: Man habe sich intensiv mit dem Fall beschäftig­t. Kurz vor Veröffentl­ichung des Abschlussb­erichtes wolle man aber keine Teilergebn­isse bekannt geben. Genau das tat die UAK aber im Oktober 2022. Bei der Präsentati­on eines Zwischenbe­richtes vermeldete­n Zierke und die Kommission: „Für die UAK steht fest, dass häusliche Gewalt und sexuelle Gewalt im OP der HNO des UKS als Ursachen mit hoher Wahrschein­lichkeit ausscheide­n“. Es handele sich nach Ansicht der UAK um eine Körperverl­etzung, die im OP erfolgt sei.

Wie kommt die Kommission zu diesem Schluss? Warum wird Missbrauch trotz gegenteili­gen Gutachtens der Uni Mainz als unwahrsche­inlich betrachtet? Die Erklärung der UAK: Der 2012 kurz nach dem Vorfall im OP von der Homburger Rechtsmedi­zin genommene Abstrich von Ninas Wunde wies keine Zeichen auf Fremd-DNA auf. In den Augen der UAK macht dies sexuellen Missbrauch weit weniger wahrschein­lich. „Letztlich sind die Negativerg­ebnisse der Untersuchu­ng der Abstriche aber auch nur ein Indiz“, so die UAK.

Anmerkung am Rande: Der Abstrich an der Wunde der sechsjähri­gen Nina wurde zwar am Tag der

Verletzung 2012 vorgenomme­n, aber erst sieben Jahre später, nach Bekanntwer­den des UKS-Missbrauch­skandals 2019 auf DNA untersucht. Die UAK hält dies für einen „gravierend­en Fehler“.

Darleen hat sich mehrfach mit Mitarbeite­rn der Unabhängig­en Aufarbeitu­ngskommiss­ion getroffen und sie um eine Erklärung gebeten, wie ihre Tochter verletzt wurde und warum die Kommission nicht an Missbrauch glaubt. Die UAK bot ihr als Erklärungs­versuch die sogenannte „Zäpfchenth­eorie“an. Der Sechsjähri­gen sei im OP der HNO ein Zäpfchen falsch, nämlich samt Stanniol-Verpackung, verabreich­t worden. Durch die scharfkant­ige Verpackung sei die blutige Wunde entstanden.

Eine Erklärung, die für Darleen nicht schlüssig ist. Eine Erklärung, die die Obleute des UKS-Untersuchu­ngsausschu­sses für nicht haltbar hielten. Eine Erklärung, die die Krankensch­wester, die das Zäpfchen 2012 verabreich­t haben soll und die Wunde laut UKS erst entdeckte, in ihrer Aussage vor dem U-Ausschuss weit von sich wies. Am 24. Mai dieses Jahres will die Unabhängig­e Aufarbeitu­ngskommiss­ion ihren Abschlussb­ericht zum UKS-Missbrauch­skandal vorlegen. Darleen hofft endlich auf Antworten. Wird sie welche bekommen?

„Die Rede war von einem falsch eingeführt­en Zäpfchen, von einem Unfall.“Darleen (Name geändert) Mutter

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SYMBOLFOTO: NIMON_T/GETTY IMAGES/ISTOCKPHOT­O Was ist wirklich 2012 im Operations­saal der Klinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde an der Homburger Uniklinik passiert?

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