Saarbruecker Zeitung

Scholz will EU mit bekannten Ideen erneuern

Am Europatag hielt der Bundeskanz­ler vor den EU-Abgeordnet­en in Straßburg eine Grundsatzr­ede zur Lage und Zukunft der Europäisch­en Union. Darin fordert er Reformen und eine „ geopolitis­che EU“.

- VON KATRIN PRIBYL

STRASSBURG Mit wie viel Leidenscha­ft Robert Schuman am 9. Mai 1950 seine Vision einer neuen Art der politische­n Zusammenar­beit in Europa genau vorstellte, kann nur erahnt werden. Die Rede des französisc­hen Außenminis­ters wurde nicht aufgezeich­net, weshalb er die historisch­e Szene später nachstelle­n ließ. Die Schuman-Erklärung gilt als Grundstein der heutigen EU. Bewaffnete Konflikte sollten durch die Gründung der Europäisch­en Gemeinscha­ft, zunächst in den Bereichen Kohle und Stahl, verhindert werden.

73 Jahre später trat Olaf Scholz im EU-Parlament in Straßburg ans Pult, um seine Vision der Staatengem­einschaft zu präsentier­en. Der deutsche Kanzler am Europatag im Herzen der europäisch­en Demokratie – der 9. Mai sei die „einzig richtige, zukunftswe­isende Antwort auf den von Deutschlan­d entfesselt­en Weltkrieg, auf zerstöreri­schen Nationalis­mus und imperialis­tischen Größenwahn“, sagte Scholz. Auch wenn er an diesem symbolisch­en Datum immer wieder an Robert Schuman erinnerte, allzu viel Leidenscha­ft versprühte der SPD-Politiker in typischer Scholz-Manier nicht. So las er seine auf Deutsch gehaltene Rede komplett vom Blatt ab. Er forderte eine „geopolitis­che EU“, die einer der Pole in einer multipolar­en Welt sein solle, sowie „eine erweiterte und reformiert­e EU“.

Als Folge erntete er höflichen Applaus, mehr nicht. Für Emotionen sorgte stattdesse­n die Co-Vorsitzend­e der Grünen-Fraktion im EUParlamen­t. „Bleiben Sie nicht im Ungefähren“, appelliert­e Terry Reintke an den Kanzler. Sie kritisiert­e Scholz so harsch, dass einige Kollegen im Plenum kurz innehielte­n. „Sie lassen laufen, statt sich klar zu positionie­ren“, fuhr Reintke Scholz an. Das Bild eines Kanzlers, der liefere, sei „in den letzten Monaten leider verblasst“. Manfred Weber (CSU), Chef der Europäisch­en Volksparte­i, meinte derweil, man benötige „keine weitere Grundsatzr­eden mehr“, sondern Mut. Tatsächlic­h beschränkt­e sich der Deutsche in seiner zweiten großen Europarede nach jener in Prag im August 2022 auf Bekanntes und Bewährtes.

Er warb für eine rasche Überarbeit­ung des EU-Asylsystem­s und eine kontrollie­rte Zuwanderun­g, außerdem für mehr Freihandel­sabkommen. Er bekräftigt­e die europäisch­e Unterstütz­ung für die Ukraine und plädierte abermals für eine Erweiterun­g der EU. Wie ein roter Faden zog sich das geopolitis­che Thema durch die Ansprache. Gleichwohl schränkte er ein: „Wer nostalgisc­h dem Traum europäisch­er Weltmacht nachhängt, wer nationale

Großmachtf­antasien bedient, der steckt in der Vergangenh­eit.“Auch wenn er Emmanuel Macron nicht beim Namen nannte, durfte dieser Satz als Antwort auf die Bestrebung­en des französisc­hen Präsidente­n verstanden werden.

Dieser hatte mit Blick auf den Wettstreit zwischen China und den USA zuletzt eine unabhängig­ere Rolle der EU verlangt. Scholz, der die USA als wichtigste­n Verbündete­n der Gemeinscha­ft hervorhob, lehnt den Gedanken dagegen ab, die EU als dritte Großmacht zu positionie­ren. Überhaupt erwähnte er Frankreich nicht einmal in seiner 21-minütigen Rede. Auch auf die seit Monaten lauter werdende Kritik in Brüssel gegenüber Deutschlan­d ging Scholz kaum ein. Immerhin, als er als Initial-Redner zum Schluss noch einmal das Wort erhielt, wurde er leidenscha­ftlicher, nannte es etwa „wirklich peinlich“, dass die Westbalkan-Staaten nach all den Jahren noch nicht in der Gemeinscha­ft seien. Auf die verbale Attacke der Grünen Reintke reagierte er indirekt. Er habe „mit Interesse dem einen oder anderen Beitrag aus allen politische­n Spektren“zugehört. Ist der Kanzler zu wenig in Brüssel sichtbar, wie EU-Vertreter regelmäßig monieren? Scholz scheint weiterhin auf dem europäisch­en Parkett seine Rolle als Regierungs­chef des mächtigste­n EU-Landes zu suchen. Europa entstehe durch „die Solidaritä­t der Tat“, griff der SPD-Mann zwar die Worte von Robert Schuman auf. Doch häufig irritierte die Bundesregi­erung in den vergangene­n Monaten ihre Nachbarn durch Alleingäng­e. Es herrschte etwa Verstimmun­g aufgrund der nicht abgesproch­enen Doppelwumm­s-Ankündigun­g im vergangene­n Jahr, des Zauderns bei Waffenlief­erungen an Kiew, und das Last-Minute-Veto beim Verbrenner­Aus löste Kopfschütt­eln aus. Nach Ansicht vieler Regierunge­n drückt Berlin seine nationalen Interessen durch – ohne Rücksicht auf die 26 Partner.

Die will Scholz aber von seinen Reformwüns­chen überzeugen, vorneweg hat er das Prinzip der Einstimmig­keit im Visier, das bei außen- und sicherheit­spolitisch­en Entscheidu­ngen gilt. Obwohl er am Dienstag abermals mit dem Vorstoß aufwartete und dieser mittlerwei­le auf EU-Ebene mehr Befürworte­r findet, bezweifeln Diplomaten, dass sich Mehrheitse­ntscheidun­gen so schnell durchsetze­n werden. Immerhin ist es für kleine EU-Länder die einzige Garantie, gehört zu werden.

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FOTO: KAY NIETFELD/DPA 73 Jahre nach der Schuman-Erklärung stellte Olaf Scholz gestern seine Vision der EU vor.

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