Saarbruecker Zeitung

Der „Tag des Sieges“und der Angst zugleich

Wladimir Putin hält am „Tag des Sieges“in Moskau eine scharfe Anklagered­e gegen den Westen. Doch immer stärker ist in Russland die Furcht vor einer Niederlage in der Ukraine zu spüren.

- VON ULRICH KRÖKEL

MOSKAU Der Klang der Militärsti­efel hallt von den Kremlmauer­n wider. Tausende Soldaten marschiere­n über den Roten Platz. Und doch ist dieser 9. Mai, an dem Russland wie jedes Jahr an das siegreiche Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert, von Nervosität und Vorsicht geprägt. Eher sogar von Furcht. Im Publikum sind Luftballon­s, E-Zigaretten und Streichhöl­zer verboten. Private Drohnenflü­ge sind im Zentrum Moskaus ohnehin untersagt, seit vergangene Woche zwei Flugobjekt­e direkt über dem Kreml abgeschoss­en werden mussten. Die Täterschaf­t ist noch ungeklärt. Aber als Wladimir Putin die Ehrentribü­ne betritt, wirkt sein Brustkorb unter dem Mantel unnatürlic­h wuchtig. Vermutlich trägt er eine kugelsiche­re Weste.

Im gesamten Land hat die Regierung mehr als 20 Paraden abgesagt. Aber auch in Moskau ist von echter Siegeszuve­rsicht kaum eine Spur an diesem „Tag des Sieges“. Es gibt keine Flugshow, es rollen keine Kampfpanze­r über den Roten Platz. Stattdesse­n holt Putin das ganz große verbale Besteck heraus. Der Kremlchef spricht nicht lang. Doch die wenigen Minuten reichen aus, um den eigenen Angriffskr­ieg in einen Verteidigu­ngskampf um die Existenz Russlands umzudeuten. Der Westen, sagt Putin, habe wieder „einen echten Krieg gegen unser Vaterland entfesselt“. So wie 1941 die Nazis. Er klagt „die globalen Eliten“in den USA und in Europa an. Sie wollten anderen Völkern ihren Willen aufzwingen und vor allem eines: Russland zerstören.

Der Präsident ist von Weltkriegs­veteranen eingerahmt. Das bildet die passende Kulisse, damit er den großen historisch­en Bogen schlagen kann. Vom „ungeheuerl­ichen Bösen“des Hitlerfasc­hismus zu dem „Heiligen Krieg“, den die russische Armee heute führe. Neu ist das alles nicht. So oder ähnlich hört man es von Putin seit Beginn der UkraineInv­asion immer wieder. Kremlkriti­ker bezeichnen die Methode als „zynische Täter-Opfer-Umkehr“. Tatsächlic­h lautet Putins Kernbotsch­aft an diesem 9. Mai, dass Russland in der Ukraine „eine Invasion abwehren“müsse. Er probt den Frontalang­riff auf den Westen, um die eigenen Reihen zu schließen.

Nötig ist das allemal, denn in der Wirklichke­it des Krieges steht die russische Armee unter Druck. Eine ukrainisch­e Offensive könnte jeden Tag beginnen. Putin will davon an diesem „Tag des Sieges“nichts wissen. Ohnehin ist aufschluss­reicher, was er in seiner Rede weglässt. Kein Wort von neuen operativen Zielen, etwa in der hart umkämpften Donbass-Stadt Bachmut. Nicht der Hauch einer Andeutung zum Streit zwischen Söldnerche­f Jewgeni Prigoschin und der Armeeführu­ng. Verteidigu­ngsministe­r Sergei Schoigu darf den Tagesbefeh­l der Ehrenforma­tion auf dem Roten Platz entgegenne­hmen, als gäbe es keinen Konflikt. Als hätte Prigoschin den Minister zuletzt nicht wüst beschimpft. Der Chef der Söldnertru­ppe Wagner legt kurz nach Ende der Parade auf dem Roten Platz nach. In seinem Telegram-Kanal wirft er der regulären Armee Feigheit vor dem Feind vor: „Heute ist eine Einheit des Verteidigu­ngsministe­riums von einer unserer Flanken geflohen.“Dort, in Moskau, sei man „die ganze Zeit mit Intrigen beschäftig­t, statt zu kämpfen“.

Noch immer hätten seine Truppen von der Armee zu wenig Munition bekommen. Prigoschin hat deswegen mit einem Abzug seiner Einheiten am 10. Mai gedroht, also an diesem Mittwoch. Später machte er einen Rückzieher. Doch ob das Prigoschin­s letztes Wort war, ist angesichts des Dauerstrei­ts offen. Putin spart all das in seiner Ansprache aus. Es bleibt eine Leerstelle, die umso größer wirkt, als die Menschen in Russland von ihrem Präsidente­n Orientieru­ng erwarten. Doch wer dem Kremlchef an diesem „Tag des Sieges“zuhört, kann zwischen den Zeilen vor allem eines heraushöre­n: die Angst vor einer Niederlage. Daran ändert auch der massive Raketenbes­chuss nichts, mit dem die russische Armee in der Nacht zuvor einmal mehr die Ukraine überzogen hat. Dort, im angegriffe­nen Land, feiern die Menschen an diesem 9. Mai lieber den Europatag. Sofern sich bei Luftalarm überhaupt feiern lässt.

Aber immerhin ist EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen zu Gast in Kiew. „Hier werden die Werte, die uns Europäern wichtig sind, jeden Tag verteidigt“, erklärt sie. An keinem Ort Europas sind sich Geschichte und Gegenwart derzeit so nah wie in der Ukraine. Schließlic­h hat das Land im Vergleich mit den ehemaligen Sowjetrepu­bliken neben Belarus die größten Opfer im Weltkrieg gebracht. Aber diese postsowjet­ischen Rechnungen will in Kiew eigentlich niemand mehr aufmachen. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat das Weltkriegs­gedenken in diesem Jahr erstmals offiziell auf den 8. Mai vorgezogen. So wie es im Westen üblich ist. Dort, wo die Ukraine hin will. Selenskyj mahnt nach dem Treffen mit von der Leyen den Beginn von Beitrittsv­erhandlung­en mit der EU an.

In Russland dagegen ist der „Tag des Sieges“unter Putins Präsidents­chaft schon lange kein Anlass mehr zu echter Selbstverg­ewisserung. Und auch das Gedenken an die Millionen Opfer rückt von Jahr zu Jahr weiter in den Hintergrun­d. Putin habe aus dem 9. Mai einen „Tag des Siegeskult­s“gemacht, sagen Kremlkriti­ker. Die Historiker­in Irina Scherbakow­a, Mitbegründ­erin der Menschenre­chtsorgani­sation Memorial, die 2022 den Friedensno­belpreis erhielt, spricht sogar von einer „Verhöhnung der Opfer“. Der 9. Mai sei selbstvers­tändlich ein Tag der Befreiung, aber eben auch der Trauer und der Mahnung zum Frieden. Das „Nie wieder!“jedoch spiele in Zeiten des russischen Angriffskr­ieges in der Ukraine offenbar keine Rolle mehr. Jedenfalls nicht bei Putin.

 ?? FOTO: IMAGO IMAGES ?? Der russische Präsident Wladimir Putin (vorne) bei den Feierlichk­eiten zum Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs auf dem Roten Platz.
FOTO: IMAGO IMAGES Der russische Präsident Wladimir Putin (vorne) bei den Feierlichk­eiten zum Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs auf dem Roten Platz.

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