Saarbruecker Zeitung

Deutscher Irrsinn

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Um zu wissen, was man will, muss man klare Prioritäte­n haben. Daran fehlt es den Grünen eigentlich nicht: Sie haben sich dem Kampf gegen die Klimaerwär­mung und dem Umweltschu­tz verschrieb­en. Die Mittel, um diese Ziele zu erreichen, sind bekannt: Da Wind und Sonne nicht ausreichen, um den deutschen Bedarf zu decken, Gas und Kohle aber sehr klima- und umweltschä­dlich sind, müssten sich die Grünen konsequent für den Bau neuer Kernkraftw­erke einsetzen, wie es viele Länder bereits tun. Der Weltklimar­at IPCC bezeichnet die Kernenergi­e als Instrument des Klimaschut­zes. Die Europäisch­e Union stuft die Kernenergi­e als nachhaltig­e Energieque­lle ein, denn nur mit ihr ist nach Meinung von Experten die notwendige Energiewen­de zu schaffen. Doch was macht Deutschlan­d? Statt neue Atomkraftw­erke zu bauen, wurden die letzten abgeschalt­et. Wieder einmal schauen unsere Nachbarn fassungslo­s zu, wie man sich in Deutschlan­d eine irrational­e und dysfunktio­nale Energiepol­itik schönredet und dann auch noch als moralische­r und klimapolit­ischer Vorreiter auftritt.

Nicht, dass die deutsche Angst vor einem möglichen Reaktorunf­all mit Blick auf die Lage und den Zustand mancher Atomkraftw­erke in der Welt irrational wäre. Aber es ergibt keinen Sinn, einerseits den Weiterbetr­ieb ukrainisch­er Atomkraftw­erke mitten im Kriegsgebi­et zu akzeptiere­n, anderersei­ts aber auf deutsche Kraftwerke mit höchsten Sicherheit­sstandards zu verzichten. Zumal wir die benötigte Energie dann teilweise aus Kernkraftw­erken europäisch­er Nachbarlän­der importiere­n müssen, von denen einige marode sind.

Es fällt mir schwer, diesen deutschen Irrsinn zu erklären. Gibt es so etwas wie politische Senilitäts­erscheinun­gen? Die Partei hat als Anti-Atom-Bewegung angefangen. Offenbar bereitet diese sehr weit zurücklieg­ende Vergangenh­eit der Partei mehr Gewissensb­isse als die wirklichen Herausford­erungen der Gegenwart. Auch für sehr alte Menschen ist die Kindheit präsenter als die Gegenwart.

Unsere Autorin ist Philosophi­e-Professori­n an der Ruhr-Universitä­t Bochum.

MARIA-SIBYLLA LOTTER

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