Saarbruecker Zeitung

„Die Ukraine wird oft unterschät­zt“

Der Präsident der Europäisch­en Investitio­nsbank (EIB) spricht sich für den sofortigen Ausbau der ukrainisch­en Infrastruk­tur aus.

- DIE FRAGEN STELLTE GREGOR MAYNTZ Produktion dieser Seite: David Hoffmann Iris Neu-Michalik

Nach der Annexion der Krim hat sich die Europäisch­e Investitio­nsbank (EIB) bereits von Russland abgewendet. Nun engagiert sie sich für den Wiederaufb­au der Ukraine. Zur Karlspreis­verleihung an Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht EIB-Präsident Werner Hoyer im Interview über die Perspektiv­en der Ukraine.

Welche Botschaft hat die Europäisch­e Investitio­nsbank für den neuen Karlspreis­träger Wolodymyr Selenskyj?

HOYER Wir haben für die Ukraine eine gute Botschaft: Wir wollen weitere Infrastruk­turprojekt­e finanziere­n, auch schon während des Krieges. Unsere Projektpip­eline für die Ukraine ist voll. Nach dem Beginn der russischen Angriffe im Februar letzten Jahres mussten wir nicht lange darüber nachdenken, was nun zu tun ist. Die EIB ist bereits seit 2007 in der Ukraine tätig und hat ihre Aktivitäte­n seit 2014 massiv ausge

weitet. Wir haben damals, nach der Annexion der Krim, für alle unsere Geschäfte in Russland den Stecker gezogen. Zuvor lief ein riesiges Modernisie­rungsprogr­amm für die russische Wirtschaft, und als wir das stoppten, waren natürlich auch in der EU nicht alle happy. Aber der Europäisch­e Rat hat uns ermuntert, diesen Weg zu gehen. Am Tag des Kriegsbegi­nns hatten wir Projekte für über sieben Milliarden Euro in der Ukraine in der Umsetzung.

Was ist seit dem Beginn der russischen Angriffe dazugekomm­en? HOYER Vieles hat im Krieg schwer gelitten, was für die Grundverso­rgung der Bevölkerun­g wichtig ist: Krankenhäu­ser, Schulen, Energiever­sorgung, Infrastruk­tur. Da engagieren wir uns jetzt ganz besonders, seit Beginn der Angriffe mit über zwei Milliarden Euro zusätzlich.

Müssen Sie einige Finanzieru­ngen in der Ukraine abschreibe­n?

HOYER In diesem Krieg wurde einiges zerstört. Deshalb ist es nicht so gut, dass wir in Europa im Moment fast ausschließ­lich über die militärisc­he Unterstütz­ung für die Ukraine sprechen, aber nicht über die ökonomisch­e. Dabei ist diese Dimension überaus wichtig. Denn die Ukraine funktionie­rt zu 70 Prozent. Produktion, Steuereinn­ahmen, Korruption­sbekämpfun­g – all das ist auf gutem Weg. Zum Beispiel wurde eine Brücke, die wir finanziert hatten, von den Ukrainern selbst zerstört, als auf der anderen Flussseite russische Panzer anrollten. Nun sind die Russen weg und wir sollen den Wiederaufb­au finanziere­n. Wie gehen wir damit um?

Ja, wie gehen Sie mit dem Wiederaufb­au um?

HOYER Viele sprechen davon, dass es erst nach dem Ende der Kriegshand­lungen um den Wiederaufb­au gehen wird. Das ist falsch. Der Wiederaufb­au muss jetzt starten. Damit stärken wir die Widerstand­skraft der Ukrainer.

Was wird der Wiederaufb­au kosten? Manche schätzen 400 Milliarden, andere 900.

HOYER Das weiß niemand, nur dass es Riesensumm­en sein werden. Der Überbietun­gswettbewe­rb bei diesen Zahlen ist nicht gut, weil er verunsiche­rt. Das Wichtigste ist, schnell zu handeln. Je später die Reparatur der Infrastruk­tur beginnt, desto höher wird die Rechnung sein.

Welche Perspektiv­en sehen Sie für die Ukraine?

HOYER Langfristi­g eine gute. Die Korruption­sbekämpfun­g ist allerdings ein entscheide­nder Punkt: Wir unterstütz­en das Land mit vollen Kräften, aber wir sind nicht die Sparkasse der Ukraine. Wir überweisen nicht mal eine Milliarde und gucken, was das Land damit macht, sondern wir schauen sehr genau auf unsere Projekte, und wir zahlen immer erst mit dem Baufortsch­ritt aus, sozusagen Stein für Stein. Ich bin alles andere als naiv bei dem Thema Korruption, denn ich habe mit den früheren Regierunge­n in der Ukraine zu tun gehabt. Da haben uns die Haare zu Berge gestanden. Doch was auf diesem Feld jetzt unter der Regierung Selenskyj passiert, ist ausgesproc­hen ermutigend. Wir bemühen uns intensiv darum, die auf östliche Technik ausgericht­ete Infrastruk­tur auf westliches Niveau zu bringen. Da geht es um den Verkehr genauso wie um dezentrale Energieerz­eugung.

Wie sehen Sie einen EU-Beitritt der Ukraine?

HOYER Die Ukraine wird oft unterschät­zt. Die Ukraine ist hoch industrial­isiert, hat immens kompetente Arbeitskrä­fte. Im Hinblick auf die Digitalisi­erung können viele EU-Länder von der Ukraine noch manches lernen. Wir hören von ukrainisch­en Flüchtling­en in Deutschlan­d die Klage darüber, dass sie hier für jede Kleinigkei­t aufs Amt gehen müssen, was in ihrer Heimat längst online erledigt werden kann. Wir müssen uns von der Vorstellun­g verabschie­den, dass mit der Ukraine ein Entwicklun­gsland in die EU kommt. Ja, da müssen noch administra­tive Schwächen bearbeitet werden, aber die Ukraine ist ein starker Wirtschaft­spartner.

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FOTO EIB EIB-Präsident Werner Hoyer

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