„Die Ukraine wird oft unterschätzt“
Der Präsident der Europäischen Investitionsbank (EIB) spricht sich für den sofortigen Ausbau der ukrainischen Infrastruktur aus.
Nach der Annexion der Krim hat sich die Europäische Investitionsbank (EIB) bereits von Russland abgewendet. Nun engagiert sie sich für den Wiederaufbau der Ukraine. Zur Karlspreisverleihung an Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht EIB-Präsident Werner Hoyer im Interview über die Perspektiven der Ukraine.
Welche Botschaft hat die Europäische Investitionsbank für den neuen Karlspreisträger Wolodymyr Selenskyj?
HOYER Wir haben für die Ukraine eine gute Botschaft: Wir wollen weitere Infrastrukturprojekte finanzieren, auch schon während des Krieges. Unsere Projektpipeline für die Ukraine ist voll. Nach dem Beginn der russischen Angriffe im Februar letzten Jahres mussten wir nicht lange darüber nachdenken, was nun zu tun ist. Die EIB ist bereits seit 2007 in der Ukraine tätig und hat ihre Aktivitäten seit 2014 massiv ausge
weitet. Wir haben damals, nach der Annexion der Krim, für alle unsere Geschäfte in Russland den Stecker gezogen. Zuvor lief ein riesiges Modernisierungsprogramm für die russische Wirtschaft, und als wir das stoppten, waren natürlich auch in der EU nicht alle happy. Aber der Europäische Rat hat uns ermuntert, diesen Weg zu gehen. Am Tag des Kriegsbeginns hatten wir Projekte für über sieben Milliarden Euro in der Ukraine in der Umsetzung.
Was ist seit dem Beginn der russischen Angriffe dazugekommen? HOYER Vieles hat im Krieg schwer gelitten, was für die Grundversorgung der Bevölkerung wichtig ist: Krankenhäuser, Schulen, Energieversorgung, Infrastruktur. Da engagieren wir uns jetzt ganz besonders, seit Beginn der Angriffe mit über zwei Milliarden Euro zusätzlich.
Müssen Sie einige Finanzierungen in der Ukraine abschreiben?
HOYER In diesem Krieg wurde einiges zerstört. Deshalb ist es nicht so gut, dass wir in Europa im Moment fast ausschließlich über die militärische Unterstützung für die Ukraine sprechen, aber nicht über die ökonomische. Dabei ist diese Dimension überaus wichtig. Denn die Ukraine funktioniert zu 70 Prozent. Produktion, Steuereinnahmen, Korruptionsbekämpfung – all das ist auf gutem Weg. Zum Beispiel wurde eine Brücke, die wir finanziert hatten, von den Ukrainern selbst zerstört, als auf der anderen Flussseite russische Panzer anrollten. Nun sind die Russen weg und wir sollen den Wiederaufbau finanzieren. Wie gehen wir damit um?
Ja, wie gehen Sie mit dem Wiederaufbau um?
HOYER Viele sprechen davon, dass es erst nach dem Ende der Kriegshandlungen um den Wiederaufbau gehen wird. Das ist falsch. Der Wiederaufbau muss jetzt starten. Damit stärken wir die Widerstandskraft der Ukrainer.
Was wird der Wiederaufbau kosten? Manche schätzen 400 Milliarden, andere 900.
HOYER Das weiß niemand, nur dass es Riesensummen sein werden. Der Überbietungswettbewerb bei diesen Zahlen ist nicht gut, weil er verunsichert. Das Wichtigste ist, schnell zu handeln. Je später die Reparatur der Infrastruktur beginnt, desto höher wird die Rechnung sein.
Welche Perspektiven sehen Sie für die Ukraine?
HOYER Langfristig eine gute. Die Korruptionsbekämpfung ist allerdings ein entscheidender Punkt: Wir unterstützen das Land mit vollen Kräften, aber wir sind nicht die Sparkasse der Ukraine. Wir überweisen nicht mal eine Milliarde und gucken, was das Land damit macht, sondern wir schauen sehr genau auf unsere Projekte, und wir zahlen immer erst mit dem Baufortschritt aus, sozusagen Stein für Stein. Ich bin alles andere als naiv bei dem Thema Korruption, denn ich habe mit den früheren Regierungen in der Ukraine zu tun gehabt. Da haben uns die Haare zu Berge gestanden. Doch was auf diesem Feld jetzt unter der Regierung Selenskyj passiert, ist ausgesprochen ermutigend. Wir bemühen uns intensiv darum, die auf östliche Technik ausgerichtete Infrastruktur auf westliches Niveau zu bringen. Da geht es um den Verkehr genauso wie um dezentrale Energieerzeugung.
Wie sehen Sie einen EU-Beitritt der Ukraine?
HOYER Die Ukraine wird oft unterschätzt. Die Ukraine ist hoch industrialisiert, hat immens kompetente Arbeitskräfte. Im Hinblick auf die Digitalisierung können viele EU-Länder von der Ukraine noch manches lernen. Wir hören von ukrainischen Flüchtlingen in Deutschland die Klage darüber, dass sie hier für jede Kleinigkeit aufs Amt gehen müssen, was in ihrer Heimat längst online erledigt werden kann. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass mit der Ukraine ein Entwicklungsland in die EU kommt. Ja, da müssen noch administrative Schwächen bearbeitet werden, aber die Ukraine ist ein starker Wirtschaftspartner.