Viktor Orban – Statthalter Moskaus in der EU
Ungarns Langzeitpremier galt einst als liberaler Westler. Heute sucht er den Schulterschluss mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Wie konnte es so weit kommen?
Ein junger Mann steht vor einer ganzen Batterie aus Mikrofonen. Der Wind zaust am langen Haar und am offenen Hemd. „Wenn wir an unsere Stärke glauben, können wir der Diktatur ein Ende setzen“, ruft er den Menschen zu, die sich an diesem 16. Juni 1989 zu Zehntausenden auf dem Budapester Heldenplatz versammelt haben. Seine Anklage richtet er nach Osten. Moskau habe Ungarn in eine „asiatische Sackgasse gezwungen“.
Er fordert Freiheit, Demokratie und den sofortigen Abzug der sowjetischen Armee. Wer Viktor Orbans Biografie nicht kennt, wird den Redner auf den Bildern vom Juni 1989 kaum erkennen. Das liegt natürlich an der Zeit, die auch an Orban nicht spurlos vorübergegangen ist. Das Haar ist ergraut, die Krawatte unter dem Doppelkinn sauber geknotet. Der schlanke Student von einst hat sich in einen gesetzten Mann verwandelt, der im Grunde alles erreicht hat.
Ende Mai wird der Vater von fünf Kindern 60 Jahre alt. Davon hat Orban insgesamt 17 Jahre in Ungarn regiert. In seiner ersten Amtszeit führte er das Land in die Nato und
auf den Weg in die EU. Das war zur Jahrtausendwende. Danach jedoch wandelte sich Orban politisch bis zur Unkenntlichkeit. Zu beobachten ist das Mitte April. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg reist nach Kiew und erklärt, der Platz der Ukraine sei in der Nato. Mitten im russischen Angriffskrieg ist das eine klare Ansage an Moskau.
Fast so, wie sie Orban 1989 für sein Land formulierte. Doch 34 Jahre später will er von einer „asiatischen Sackgasse“nichts mehr wissen. Bei Twitter fasst er seine Empörung
über Stoltenberg in ein einziges englisches Wort: „What?!“Politisch übersetzt heißt das: „Niemals! Nicht mit mir.“Anders kann man Orban kaum verstehen, wenn man seine Russland- und Ukraine-Politik seit der Invasion verfolgt hat. Er hält nicht nur gleichen Abstand zu Moskau und Kiew.
Nein, Orban geriert sich als eine Art Statthalter des russischen Präsidenten Wladimir Putin in der EU. Vom ersten Kriegstag an bremst der ungarische Regierungschef die Brüsseler Sanktionspolitik, wo er
nur kann. Das gilt vor allem für den Energiesektor. Zum geplanten Ölembargo sagt Orban über Monate hinweg Nein, bevor er einlenkt. Er schickt seinen Außenminister nach Moskau, um über zusätzliche Gaslieferungen zu verhandeln.
Kurz darauf gibt er sein Okay für den Bau zweier Reaktoren im südungarischen AKW Paks durch einen russischen Staatskonzern. In anderen Bereichen kennt Orban überhaupt keine Kompromisse. So verhindert er bis heute EU-Sanktionen gegen Patriarch Kyrill I.
Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche hat sich nicht nur hinter den Angriffskrieg in der Ukraine gestellt. Kyrill unterstützt auch Putins ideologische Begründung, das slawische Bruderland besitze keine eigenständige Nationalkultur. Die Nähe zwischen Orban und dem russischen Präsidenten in der zur Schau gestellten christlichkonservativen Ideologie ist kaum zu übersehen.
Anfang Mai erklärt der ungarische Premier: „Wir haben die Migration gestoppt, die Förderung von Gender-Propaganda beendet, und wir kämpfen unermüdlich für den Frieden. Das ist das Heilmittel gegen das progressiv-liberale Virus.“Am 9. Mai sagt Putin in seiner Rede zum „Tag des Sieges“im Zweiten Weltkrieg: „Wir wollen eine friedliche Zukunft. Es sind die westlichen globalistischen Eliten, die Familien zerstören und jene traditionellen Werte, die uns zu Menschen machen.“Beide formulieren sehr ähnliche Glaubensbekenntnisse ihres illiberalen Denkens.
Bleibt die Frage: Tickt Orban, der Freiheitskämpfer von 1989, wirklich
„Wir haben die Migration gestoppt, die Förderung von GenderPropaganda beendet, und wir kämpfen unermüdlich für den Frieden. Das ist das Heilmittel gegen das progressivliberale Virus.“Viktor Orban Ministerpräsident Ungarns
so? Der bulgarische Demokratieforscher Ivan Krastev ist überzeugt, dass Orbans Enttäuschung über den Westen „bis ins Herz des liberalen Politikverständnisses reicht“. Menschenrechte, Gewaltenteilung, Pressefreiheit und eine unabhängige Justiz seien für Orban heute Störfaktoren beim Klammergriff nach der Macht. Der passionierte Fußballer habe schon immer vor allem „ein guter Anführer“sein wollen. Einer, der bestimmt, wo es langgeht. Raus aus der „asiatischen Sackgasse“damals, weg vom Westen heute.