Saarbrücken wehrt sich gegen das Vergessen
22 neue Stolpersteine erinnern in Malstatt auf den Bürgersteigen an die ehemaligen Hausbewohner, die die Nazis in die Vernichtungslager brachten.
Was lange totgeschwiegen wurde, soll wieder in Erinnerung gerufen werden, auch in Saarbrücken. Und zwar in Form von 29 knapp zehn auf zehn Zentimeter großen, quadratischen Messingtafeln, die 2023 niveaugleich in den Boden eingelassen werden sollen. Eingraviert sind die Namen und Daten ehemaliger Bürgerinnen und Bürger, die im NS-Regime ermordet wurden. Am Donnerstag sind bereits 22 davon an drei Orten in Malstatt vom Künstler und Gründer der Stolperstein-Bewegung, Gunter Demnig, verlegt worden. Die Veranstaltung sei der Auftakt zu weiteren Verlegungen im laufenden Jahr gewesen, wie die Stadt mitteilte. Der Stadtrat stimmte der großen Verlegungsaktion schon im vergangenen Jahr zu, im Februar dieses Jahres wurde die Liste um sieben weitere Gedenktafeln ergänzt. Wegen der Pandemie habe sich alles immer wieder verzögert, hieß es.
Die Erinnerung an die jüdische Gesellschaft in Saarbrücken vor und während der Zeit des Nationalsozialismus sieht Oberbürgermeister Uwe Conradt (CDU) als „Pflicht unserer Stadt“an. Die „Stolpersteine“sind ein Kunstprojekt, das die „Erinnerung an die Juden, Zigeuner, Sinti und Roma, politisch Verfolgten, Homosexuellen, Zeugen Jehovas und Euthanasie-Opfer im Nationalsozialismus lebendig hält“, wie es auf der Webseite des Kunstprojekts heißt. Demnig (75) hat 1992 mit dem Verlegen von Stolpersteinen begonnen und plant demnächst die 100 000. Einsetzung. Die Namen, die genannt werden, stünden stellvertretend für die Millionen Opfer des Holocausts. Auch Oberbürgermeister Conradt ist es wichtig zu erwähnen, dass jeder Stein nur „exemplarisch für das Leben vieler Menschen, die unter uns gelebt haben“stehe. Die symbolischen Gedenktafeln machten das Schicksal „begreifbar“, die „Erinnerung würde in den Alltag geholt“. Den Zweck der Aktion fasst der OB unter dem Motto „Nie wieder!“zusammen. Die Stolpersteine stünden auch in Verbindung mit anderen Projekten der Stadt, wie dem „Band der Erinnerung“vor der Synagoge am Beethovenplatz.
Der Anfang der Verlegungen wurde am Donnerstag in der Alten Lebacher Straße 4 gemacht. Dort, wo bisher nichts auf das ehemalige Elternhaus der Familie Deresiewicz hingewiesen hat, erinnern jetzt 20 Stolpersteine daran, dass die Nazis einen Großteil der Familie ermordet haben. Die Familie sei fest in das jüdische Leben Saarbrückens integriert gewesen, wie Hans-Christian Herrmann, Leiter des Saarbrücker Stadtarchivs, berichtet. Innerhalb einer großen Fluchtbewegung von Juden vor Pogromen in Polen Ende der 1920er Jahre floh die Familie nach Deutschland, 1936 zog sie infolge der Judenverfolgung durch das NS-Regime im nun wieder zum Deutschen Reich gehörenden Saarland zurück nach Polen. Nach dem Überfall von Hitler-Deutschland auf Polen 1939 deportierten die Nazis 20 der 30 Familienmitglieder in die Konzentrationslager Stutthof bei Danzig und Auschwitz. 20 Messingtafeln sollen so an die Schicksale erinnern, deren Details teilweise immer noch unbekannt sind.
Die einzelnen Paten der Stolpersteine, überwiegend Stadtverordnete der Fraktionen im Stadtrat, legten nach jüdischem Brauch Steine auf die Namenstafeln nieder, während Oberbürgermeister Conradt die Lebensdaten der NS-Opfer verlas. Gabriele Herrmann aus der CDU-Stadtratsfraktion übernahm zum Beispiel die
Patenschaft für den Stolperstein von Miriam Deresiewicz, der Mutter der Familie. Ihr sei es wichtig, dass „die Erinnerung wachgehalten wird, vor allem auch im Kontext dessen, was aktuell in der Welt passiert“. Kantor Benjamin Chait von der Synagogengemeinde betete einen Psalm aus der Jüdischen Schrift zum Gedenken an die Opfer vor.
Am zweiten Ort der Verlegungsaktion, an der katholischen Pfarrkirche St. Josef, wird an Josef Ruf, einen überzeugten christlichen Widerständler, erinnert. Als Mitglied der katholischen Erneuerungsbewegung sei er der nationalsozialistischen Gleichschaltung der Kirche nicht gefolgt und habe nach seinem Einzug in die Wehrmacht den Fahneneid verweigert. Auch vor seiner Hinrichtung sei er „klar überzeugt gewesen, dass er so handeln musste, um dem Willen Gottes gerecht zu werden“. Eine Gemeindereferentin der Pfarrei St. Josef rief im Zeichen von Ruf zum gemeinsamen Beten des ökumenischen Friedensgebets auf, eine Bratsche hat die Gedenkfeier musikalisch begleitet.
An Käthe Westenburger wird in der Wörther Straße 11 durch einen eigenen Stolperstein erinnert. Sie habe als Anhängerin der kommunistischen Bewegung „für den Status quo gekämpft“, also gegen den Anschluss des Saargebiets an Hitler-Deutschland, erklärt Herrmann vom Stadtarchiv. Ihr Ziel sei es gewesen, nationalsozialistische Propaganda durch Flugblatt-Aktionen zu entlarven, weshalb sie 1935 für einige Jahre ins Gefängnis gezwungen wurde. Westenburgers Tochter berichtete bei der Veranstaltung von der Erinnerungsarbeit, durch die ihre Mutter bis ins hohe Alter vor allem junge Menschen vor der NS-Zeit gewarnt und sie für das Geschehene sensibilisiert habe.
Es sei noch jede Menge Recherchearbeit nötig, viele Geschichten seien noch unerforscht. Das sei aber keine Voraussetzung für eine Stolperstein-Verlegung, vielmehr würde das Nennen der Namen „dazu anregen, Fragen zu stellen.“So würde „die Erinnerungskultur in Saarbrücken weiter ergänzt werden“, meinte Oberbürgermeister Conradt.