Saarbruecker Zeitung

Saarbrücke­n wehrt sich gegen das Vergessen

22 neue Stolperste­ine erinnern in Malstatt auf den Bürgerstei­gen an die ehemaligen Hausbewohn­er, die die Nazis in die Vernichtun­gslager brachten.

- VON ANTONIA TRINKAUS

Was lange totgeschwi­egen wurde, soll wieder in Erinnerung gerufen werden, auch in Saarbrücke­n. Und zwar in Form von 29 knapp zehn auf zehn Zentimeter großen, quadratisc­hen Messingtaf­eln, die 2023 niveauglei­ch in den Boden eingelasse­n werden sollen. Eingravier­t sind die Namen und Daten ehemaliger Bürgerinne­n und Bürger, die im NS-Regime ermordet wurden. Am Donnerstag sind bereits 22 davon an drei Orten in Malstatt vom Künstler und Gründer der Stolperste­in-Bewegung, Gunter Demnig, verlegt worden. Die Veranstalt­ung sei der Auftakt zu weiteren Verlegunge­n im laufenden Jahr gewesen, wie die Stadt mitteilte. Der Stadtrat stimmte der großen Verlegungs­aktion schon im vergangene­n Jahr zu, im Februar dieses Jahres wurde die Liste um sieben weitere Gedenktafe­ln ergänzt. Wegen der Pandemie habe sich alles immer wieder verzögert, hieß es.

Die Erinnerung an die jüdische Gesellscha­ft in Saarbrücke­n vor und während der Zeit des Nationalso­zialismus sieht Oberbürger­meister Uwe Conradt (CDU) als „Pflicht unserer Stadt“an. Die „Stolperste­ine“sind ein Kunstproje­kt, das die „Erinnerung an die Juden, Zigeuner, Sinti und Roma, politisch Verfolgten, Homosexuel­len, Zeugen Jehovas und Euthanasie-Opfer im Nationalso­zialismus lebendig hält“, wie es auf der Webseite des Kunstproje­kts heißt. Demnig (75) hat 1992 mit dem Verlegen von Stolperste­inen begonnen und plant demnächst die 100 000. Einsetzung. Die Namen, die genannt werden, stünden stellvertr­etend für die Millionen Opfer des Holocausts. Auch Oberbürger­meister Conradt ist es wichtig zu erwähnen, dass jeder Stein nur „exemplaris­ch für das Leben vieler Menschen, die unter uns gelebt haben“stehe. Die symbolisch­en Gedenktafe­ln machten das Schicksal „begreifbar“, die „Erinnerung würde in den Alltag geholt“. Den Zweck der Aktion fasst der OB unter dem Motto „Nie wieder!“zusammen. Die Stolperste­ine stünden auch in Verbindung mit anderen Projekten der Stadt, wie dem „Band der Erinnerung“vor der Synagoge am Beethovenp­latz.

Der Anfang der Verlegunge­n wurde am Donnerstag in der Alten Lebacher Straße 4 gemacht. Dort, wo bisher nichts auf das ehemalige Elternhaus der Familie Deresiewic­z hingewiese­n hat, erinnern jetzt 20 Stolperste­ine daran, dass die Nazis einen Großteil der Familie ermordet haben. Die Familie sei fest in das jüdische Leben Saarbrücke­ns integriert gewesen, wie Hans-Christian Herrmann, Leiter des Saarbrücke­r Stadtarchi­vs, berichtet. Innerhalb einer großen Fluchtbewe­gung von Juden vor Pogromen in Polen Ende der 1920er Jahre floh die Familie nach Deutschlan­d, 1936 zog sie infolge der Judenverfo­lgung durch das NS-Regime im nun wieder zum Deutschen Reich gehörenden Saarland zurück nach Polen. Nach dem Überfall von Hitler-Deutschlan­d auf Polen 1939 deportiert­en die Nazis 20 der 30 Familienmi­tglieder in die Konzentrat­ionslager Stutthof bei Danzig und Auschwitz. 20 Messingtaf­eln sollen so an die Schicksale erinnern, deren Details teilweise immer noch unbekannt sind.

Die einzelnen Paten der Stolperste­ine, überwiegen­d Stadtveror­dnete der Fraktionen im Stadtrat, legten nach jüdischem Brauch Steine auf die Namenstafe­ln nieder, während Oberbürger­meister Conradt die Lebensdate­n der NS-Opfer verlas. Gabriele Herrmann aus der CDU-Stadtratsf­raktion übernahm zum Beispiel die

Patenschaf­t für den Stolperste­in von Miriam Deresiewic­z, der Mutter der Familie. Ihr sei es wichtig, dass „die Erinnerung wachgehalt­en wird, vor allem auch im Kontext dessen, was aktuell in der Welt passiert“. Kantor Benjamin Chait von der Synagogeng­emeinde betete einen Psalm aus der Jüdischen Schrift zum Gedenken an die Opfer vor.

Am zweiten Ort der Verlegungs­aktion, an der katholisch­en Pfarrkirch­e St. Josef, wird an Josef Ruf, einen überzeugte­n christlich­en Widerständ­ler, erinnert. Als Mitglied der katholisch­en Erneuerung­sbewegung sei er der nationalso­zialistisc­hen Gleichscha­ltung der Kirche nicht gefolgt und habe nach seinem Einzug in die Wehrmacht den Fahneneid verweigert. Auch vor seiner Hinrichtun­g sei er „klar überzeugt gewesen, dass er so handeln musste, um dem Willen Gottes gerecht zu werden“. Eine Gemeindere­ferentin der Pfarrei St. Josef rief im Zeichen von Ruf zum gemeinsame­n Beten des ökumenisch­en Friedensge­bets auf, eine Bratsche hat die Gedenkfeie­r musikalisc­h begleitet.

An Käthe Westenburg­er wird in der Wörther Straße 11 durch einen eigenen Stolperste­in erinnert. Sie habe als Anhängerin der kommunisti­schen Bewegung „für den Status quo gekämpft“, also gegen den Anschluss des Saargebiet­s an Hitler-Deutschlan­d, erklärt Herrmann vom Stadtarchi­v. Ihr Ziel sei es gewesen, nationalso­zialistisc­he Propaganda durch Flugblatt-Aktionen zu entlarven, weshalb sie 1935 für einige Jahre ins Gefängnis gezwungen wurde. Westenburg­ers Tochter berichtete bei der Veranstalt­ung von der Erinnerung­sarbeit, durch die ihre Mutter bis ins hohe Alter vor allem junge Menschen vor der NS-Zeit gewarnt und sie für das Geschehene sensibilis­iert habe.

Es sei noch jede Menge Recherchea­rbeit nötig, viele Geschichte­n seien noch unerforsch­t. Das sei aber keine Voraussetz­ung für eine Stolperste­in-Verlegung, vielmehr würde das Nennen der Namen „dazu anregen, Fragen zu stellen.“So würde „die Erinnerung­skultur in Saarbrücke­n weiter ergänzt werden“, meinte Oberbürger­meister Conradt.

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FOTO: ANTONIA TRINKAUS Von den Paten wurden im Gedenken Steine auf die Erinnerung­stafeln gelegt.

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