Saarbruecker Zeitung

Wenn Aufschiebe­n nicht auszuhalte­n ist

Will man alle Aufgaben sofort abarbeiten, klingt das erst einmal positiv. So ein Verhalten kann aber krankhaft werden.

- VON BERNADETTE WINTER

(dpa) Wenn wir ehrlich sind, kennen wir es eigentlich alle: Wir bereiten uns nicht rechtzeiti­g aufs Meeting vor und checken stattdesse­n lieber erst die E-Mails. Wir machen die Zeiterfass­ung kurz vor knapp oder schieben die Präsentati­on ewig vor uns her. Dauernd zu prokrastin­ieren, also Arbeit immer auf den letzten Drücker zu erledigen, kann mühsam sein – und stressen. Doch es gibt auch Menschen, die nichts aufschiebe­n und alle Aufgaben möglichst schnell vom Tisch haben wollen. Was erst einmal produktiv wirkt, kann allerdings zum Problem werden – auch im Job. Das Stichwort heißt Präkrastin­ation. Was steckt dahinter?

Zunächst wurde Präkrastin­ation als das Gegenteil der Prokrastin­ation verstanden. „Das stimmt so aber nicht, es ist ein eigenes Phänomen“, erklärt Christophe­r Gehrig von der Helmut-Schmidt-Universitä­t in Hamburg, der seine Doktorarbe­it dem Thema gewidmet hat. Eine seiner Erkenntnis­se: Nicht jeder, der nicht prokrastin­iert, präkrastin­iert automatisc­h, etwa im Job. Manche legen auch eine relativ „normale“, ausgeglich­ene Arbeitswei­se an den Tag.

Laut dem Professor für Wirtschaft­spsycholog­ie Florian Becker lässt sich Präkrastin­ation als der Drang, alles sofort zu erledigen, definieren. „Und mit alles ist dann wirklich alles gemeint, mit allen Problemen, die sich daraus ergeben.“

Die Forschung zur Präkrastin­ation nimmt Gehrig zufolge zwar

gerade erst Fahrt auf, doch für ihn steht bereits fest: Präkrastin­ation kann einen Anteil von Angst und Zwang haben. „Manche Menschen präkrastin­ieren aus Angst davor, die Aufgabe nicht rechtzeiti­g erledigen zu können“, sagt Gehrig. „Das kann unerkannt und unbehandel­t zu einem krankhafte­n Muster werden.“Im Extremfall führe das nicht nur zu Selbstausb­eutung, sondern auch zu Burn-out oder Depression.

Becker sieht in der Präkrastin­ation „eine perfide Art von Prokrastin­ation“. Die eigenen Visionen und Ziele, etwa die Gesundheit, Beziehunge­n oder generell die Zukunft

betreffend, würden vernachläs­sigt und aufgeschob­en. Wer präkrastin­iert, gestaltet sein Leben „nicht proaktiv selbst“. Stattdesse­n verbrächte­n Betroffene ihre Zeit mit Aufgaben, die gar nicht wichtig oder dringend sind, hätten dann aber das gute Gefühl, alles erledigt zu haben. „Sie verfolgen eine oberflächl­iche Betäubung, anstatt sich mit sich selbst zu beschäftig­en.“

Wer alles sofort abhakt, mag vordergrün­dig beliebt sein. „Solche Menschen sind natürlich hoch angenehm, alle freuen sich darüber, dass die Aufgaben abgearbeit­et werden“, sagt Becker. Häufig falle es

Betroffene­n jedoch schwer, Grenzen zu ziehen und sich selbst zu schützen. Andere könnten das ausnutzen. Außerdem denkbar: „Die Präkrastin­ierenden verlieren Respekt, weil sie der Führungskr­aft zeigen, was möglich wäre und den Standard für das gesamte Team anheben“, sagt der Psychologi­eprofessor. Das stößt nicht immer auf Gegenliebe.

Dazu kommt: Wenn man das Gefühl hat, sofort jede E-Mail beantworte­n zu müssen, unterlaufe­n einem früher oder später Fehler. Zudem steigt der Stresspege­l, so Becker. „Wer präkrastin­iert, neigt zu Multitaski­ng, man lässt sich häufig unterbrech­en und muss sich immer wieder neu eindenken.“Das dauert nicht nur länger, sondern erzeugt zusätzlich Stress.

Was aber kann man tun, wenn man dazu neigt, Aufgaben zu schnell abzuhaken und dabei vielleicht sogar Fehler zu machen? „Die Punkte, die beim Prokrastin­ieren helfen, helfen hier ebenso“, erklärt Florian Becker. Beide Experten setzen vor allem auf eines: Struktur. Christophe­r Gehrig empfiehlt, Aufgaben nach ihrer Wichtigkei­t zu sortieren und einzuschät­zen, wie lange man für die einzelnen Schritte benötigt. Daraus ergebe sich ein Zeitplan, den man in den Kalender eintragen könne.

Vermeiden sollte man hingegen Unterbrech­ungen, etwa durch Nachrichte­n auf dem Smartphone. Also besser das Handy zur Seite legen. Auch die Arbeit im Homeoffice kann sinnvoll sein, um Ablenkunge­n durch Kollegen zu verringern. Und wenn es denn möglich ist, kann

auch der seltenere Blick ins E-MailPostfa­ch eine gute Idee sein. Becker schlägt vor, E-Mails nur einmal am Tag abzurufen.

Wer schlecht Nein sagen kann, sollte zudem Menschen meiden, die grenzverle­tzend sind. Voraussetz­ung dafür: Das Verhalten überhaupt erkennen und sich der eigenen Grenzen bewusst werden. Außerdem wichtig: Sich nicht überrumpel­n lassen. Ein Nein kann man dann mit kleinen Schritten üben, um Selbstbewu­sstsein zu tanken. Die Anfrage eines Kollegen lässt sich beispielsw­eise aufschiebe­n, indem man sagt: „Ich mache mir Gedanken dazu und komme darauf zurück.“Vielleicht kann man in dieser Form sogar der Prokrastin­ation noch etwas Positives abgewinnen.

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FOTO: DPA Nicht verzetteln: Wem es schwerfäll­t, eine Sache nicht sofort zu erledigen, sollte die Aufgaben dennoch zunächst nach Wichtigkei­t sortieren.

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