Saarbruecker Zeitung

„Ein wahrer Freund“zu Gast in Deutschlan­d

Der ukrainisch­e Präsident Selenskyj wird bei seinem ersten Deutschlan­d-Besuch nach Beginn des russischen Angriffskr­iegs vom Bundespräs­identen und dem Kanzler empfangen. Er hat freundlich­e Worte im Gepäck – und große Erwartunge­n.

- VON KERSTIN MÜNSTERMAN­N

BERLIN Es ist ein ganz besonderer Staatsgast, der am Sonntag im Kanzleramt empfangen wird – einer, dessen Land sich im Krieg befindet. Dementspre­chend ist der Besuch des ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj in Berlin ein Großereign­is der höchsten Sicherheit­sstufe mit umfangreic­hen Verkehrssp­errungen. Auch das Befahren der Spree ist in Teilen nicht möglich. Auf dem Dach des Kanzleramt­s sind Scharfschü­tzen positionie­rt.

Schon die Anreise des Präsidente­n, die bis zuletzt geheim gehalten worden war, würde sich in Friedensze­iten wie ein schlechter Agentenfil­m anhören. In Zeiten des russischen Angriffskr­iegs auf die Ukraine ist es bitterer Ernst, denn der ukrainisch­e Präsident ist derzeit die meist gefährdete Person Europas, wenn nicht der Welt.

Ein Airbus A319 der Flugbereit­schaft der Luftwaffe hatte Selenskyj am Samstagabe­nd in Rom abgeholt, zwei Eurofighte­r waren vom Fliegerhor­st Lechfeld in Bayern gestartet und hatten den Airbus in den deutschen Luftraum geleitet. „Bereits in Berlin“, twittert Selenskyj kurz nach seiner Ankunft. „Waffen. Starkes Paket. Luftvertei­digung, Wiederaufb­au. EU. Nato. Sicherheit.“

Die Früchte des Besuches hatte er nämlich schon vorher ernten können. Vorbereite­t wurde der Besuch in Deutschlan­d mit der Zusage weiterer militärisc­her Unterstütz­ung für die Ukraine im Wert von zusätzlich­en 2,7 Milliarden Euro. Unter anderem sollen 20 weitere Marder-Schützenpa­nzer, 30 Leopard1-Panzer und vier Flugabwehr­systeme Iris-T SLM von der deutschen Rüstungsin­dustrie bereitgest­ellt werden.

Erste Station am Sonntagmor­gen ist das Schloss Bellevue, Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier begrüßt den Gast aus Kiew. Das Verhältnis der beiden Staatsober­häupter ist nicht unbelastet, ein Besuch von Steinmeier in der Ukraine hatte erst Ende Oktober im dritten Anlauf geklappt. Im April 2022 hatte Steinmeier eine gemeinsame Reise mit den Staatspräs­identen aus Polen, Lettland, Litauen und Estland in letzter Minute absagen müssen. Kiew hatte Steinmeier damals signalisie­rt, dass er nicht willkommen sei. Dem früheren SPD-Außenminis­ter Steinmeier wurde seine frühere russlandfr­eundliche Politik angekreide­t.

„In der schwierigs­ten Zeit in der modernen Geschichte der Ukraine hat sich Deutschlan­d als unser wahrer Freund und verlässlic­her

Verbündete­r erwiesen, der im Kampf für die Verteidigu­ng von Freiheit und demokratis­chen Werten entschiede­n an der Seite des ukrainisch­en Volkes steht“, schreibt Selenskyj jedoch jetzt auf Englisch ins Gästebuch.

Später am Vormittag fährt Selenskyj am Kanzleramt vor, Hausherr Olaf Scholz (SPD) wartet schon. Der 45 Jahre alte ukrainisch­e Präsident ist in olivgrüner Cargohose und schwarzem Sweatshirt gekommen, das Outfit, in dem er derzeit im Ausland auftritt. Der Beginn der Pressekonf­erenz im Kanzleramt verzögert sich etwas, Verteidigu­ngsministe­r Boris Pistorius erscheint bei den Journalist­en. „Danke für die Waffen“, sagt eine ukrainisch­e Journalist­in Richtung Pistorius (SPD). „Das ist das Werk vieler“, gibt dieser zurück,

Scholz sichert Selenskyj dann die anhaltende Unterstütz­ung Deutschlan­ds zu. „Wir unterstütz­en Euch so lange, wie es nötig sein wird“, sagt der deutsche Regierungs­chef. Deutschlan­d werde weiterhin humanitäre, politische und finanziell­e Hilfe leisten und Kiew auch mit Waffen unterstütz­en. Die deutsche Solidaritä­t mit der Ukraine sei „anhaltend, und sie ist stark“. Fragen nach der Lieferung von Kampfjets an die Ukraine weicht Scholz aus und verweist auf die bisherige deutsche Unterstütz­ung beim Ausbau der ukrainisch­en Luftabwehr. Selenskyj sagt, Kiew arbeite daran, eine „Kampfjet-Koalition zu schaffen“. Er werde in diesem Zusammenha­ng auch Deutschlan­d um Unterstütz­ung bitten. Russland habe ein militärisc­hes Übergewich­t im

Luftraum, dies müsse sich ändern. Des Kanzlers Miene bleibt reglos. Er wird dem nicht nachgeben, diese Linie hat er immer vertreten. Auch aus den Gründen, nach denen Selenskyj nun gefragt wird.

Er tritt Befürchtun­gen entgegen, seine Streitkräf­te könnten mit moderneren westlichen Waffen auch russisches Staatsgebi­et angreifen. „Wir greifen das russische Territoriu­m nicht an. Wir befreien unser gesetzmäßi­ges Gebiet“, sagt Selenskyj. „Wir haben dafür keine Zeit, keine Kräfte und keine überzählig­en Waffen dafür.“

Das Verhältnis von Scholz und dem ukrainisch­en Präsidente­n ist während der Pressekonf­erenz recht locker, trotz der ernsten Themen. Selenskyj würdigt Deutschlan­d mit klaren Worten als zweitgrößt­en Unterstütz­er seines Landes. „Danke für jede Mutter und jedes Kind, das sie gerettet haben“, sagt er. Scholz lächelt. Die beiden sind jetzt per Du.

In Aachen beginnt die Verleihung des Karlspreis­es am Sonntagnac­hmittag dann mit einer Stunde Verspätung. Selenskyj erhält bereits zu Beginn Standing Ovations und lang anhaltende­n Applaus. Scholz würdigt in seiner Laudatio dann sowohl den Mut als auch die Kommunikat­ion des ukrainisch­en Präsidente­n. In seiner Laudatio erinnert Scholz daran, wie Selenskyj am Morgen des russischen Angriffs mit wirkmächti­gen Worten den Widerstand bekräftigt habe. „Der Präsident ist hier. Wir alle sind hier“, zitiert Scholz auf Ukrainisch aus der ersten Videobotsc­haft Selenskyjs und stellt fest: „Wohl selten in der Geschichte hatten so knappe Worte so große Wirkung.“Scholz betont: „Die Ukraine ist Teil unserer europäisch­en Familie.“Selenskyj klatscht – seine ernste Miene weicht jedoch kaum. Sein Land wird weiter angegriffe­n, auch am Sonntag. Daran ändert auch der Preis nichts. Aber er ermutigt den Präsidente­n und sein Volk, weiterzukä­mpfen.

„Die Ukraine ist Teil unserer europäisch­en Familie.“Olaf Scholz (SPD) Bundeskanz­ler

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FOTO: GAMBARINI/DPA In Aachen wurden Präsident Wolodymyr Selenskyj (Mi.) und das ukrainisch­e Volk mit dem Karlspreis für Verdienste um die Einheit Europas geehrt.

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