Eine Wende im Verhältnis zwischen Berlin und Kiew
Ein Staatsbesuch der besonderen Art – das Regierungsviertel in der deutschen Hauptstadt glich am Sonntagmorgen einer Festung. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist in Deutschland, das erste Mal seit Kriegsbeginn. Bundeskanzler Olaf Scholz empfing den Mann aus Kiew mit militärischen Ehren im Vorhof des Kanzleramts. Mehr als über den Empfang wird sich der Gast aus der Ukraine über das Paket an Waffen gefreut haben, das am Tag zuvor verkündet wurde. Deutschland hat nochmal mächtig draufgelegt, auf 2,7 Milliarden Euro wird das jüngste Paket beziffert.
Aus dem zögerlichen Partner in den ersten Kriegstagen ist der zweitwichtigste Waffenlieferant geworden. Scholz nannte während der Pressekonferenz eine Summe von 17 Milliarden Euro als Gesamtwert der deutschen zivilen und militärischen Hilfe.
Diese wuchtige Hilfe trägt Früchte: Das persönliche Verhältnis von Selenskyj und Scholz hat sich spürbar verbessert, man merkt es an der Körpersprache der beiden. Hier und da ein Scherz, ein sich gegenseitiges Berühren am Arm, ein Lächeln.
Doch die schönen Bilder im Kanzleramt können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Verhältnis zwischen Scholz und Selenskyj kein einfaches ist, ein unbequemes bleiben wird. Denn neben der Unterstützung für den Partner Ukraine in dessen Abwehrkampf gegen den russischen Angriff stellen sich Fragen: Wird die Ukraine dazu übergehen, Ziele auch in Russland selbst anzugreifen, wenn sie mit entsprechenden Waffen ausgestattet wird? Und wie reagiert das westliche Bündnis darauf? Angriffe auf russisches Territorium würden die Gefahr einer Eskalation mit Nato-Staaten deutlich erhöhen.
Auch drängt die Ukraine weiter auf moderne Kampfjets westlicher Bauart, die ihnen die USA und Deutschland nicht liefern wollen. Selenskyj kündigte am Sonntag sein Bemühen um eine internationale „Kampfjet-Allianz“an und betonte, auch Deutschland ansprechen zu wollen. Russland habe derzeit ein Übergewicht im Luftraum, begründete er sein Anliegen. Doch Scholz machte seinerseits deutlich, dass er derzeit keine Waffen neuer Qualität bereitstellen wolle. Er verwies auf die deutsche Unterstützung der Ukraine bei der Luftverteidigung. Die Antwort dürfte Selenskyj nicht gefallen. Aber Druck will er an diesem Sonntag nicht auf Scholz ausüben. Auf die Frage einer ukrainischen Journalistin, ob die deutsche Militärhilfe denn ausreiche, scherzt er, noch einige Besuche, und dann sei es ausreichend.
So ganz auf einer Wellenlänge sind die beiden eben doch noch nicht. Und je länger der Krieg andauert, desto schwieriger wird die Zusicherung, dass Deutschland uneingeschränkt an der Seite des bedrängten Landes bleibt. Dennoch: Der Deutschland-Besuch des Präsidenten markiert eine Wende im deutsch-ukrainischen Verhältnis. Es war ein guter Besuch, der für beide Länder ein neues Kapitel aufschlägt. Und dass der Ukraine den Karlspreis, ein Preis auch für die Verteidigung der Freiheit in Europa, zusteht, das steht außer Frage. Selenskyj, vor allem aber die Menschen in der Ukraine, haben das mehr als verdient.