Saarbruecker Zeitung

Für welche Zukunft entscheide­t sich die Türkei?

Die Türken sind tief gespalten: Soll Präsident Recep Tayyip Erdogan weiter regieren, oder nicht? Bei den Präsidents­chafts- und Parlaments­wahl zeichnete sich am Sonntagabe­nd zunächst kein klares Ergebnis ab.

- VON SUSANNE GÜSTEN

ISTANBUL Mittags musste ein Helfer im Wahllokal 1188 schon die Urne schütteln, um Platz für weitere Stimmen zu schaffen: Die grünen Umschläge mit den Stimmzette­ln für Präsident und Parlament verkantete­n sich beim Einwurf in die transparen­te Plastikbox, so hoch war der Haufen eingeworfe­ner Stimmen schon. Mit energische­m Ruck schüttelte der Helfer die Umschläge zurecht, und die Stimmabgab­e konnte weitergehe­n. Als die Abstimmung um 17 Uhr Ortszeit am Sonntag endete, war der Kasten gut gefüllt und die Wahl reibungslo­s verlaufen – doch ein klares Ergebnis gab es bei der Wahl in der Türkei bis zum späten Sonntagabe­nd nicht.

Mit dem Verlauf der Wahl waren Beobachter zufrieden. „Wir haben keine Unregelmäß­igkeiten festgestel­lt“, sagte der italienisc­he Parlamenta­rier Andrea Orlando, der als Wahlbeobac­hter für den Europarat in Istanbul unterwegs war, unserer Zeitung vor Ort.

Anders verhielt es sich mit der Auszählung der Stimmen nach Schließung der Wahllokale am Abend. Die staatliche Nachrichte­nagentur Anadolu halte Auszählung­sergebniss­e zurück, um die Opposition zu demoralisi­eren, beschwerte­n sich Opposition­spolitiker vor laufenden Kameras. Allerdings ergaben auch Zählungen einer privaten Agentur und der Opposition selbst keinen Sieg der Opposition, so dass das Rennen um die Präsidents­chaft voraussich­tlich in eine Stichwahl zwischen Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan und seinem Herausford­erer Kemal Kilicdarog­lu geht. Die Türken müssten dann am 28. Mai noch einmal an die Urnen gehen.

Ein Mädchen mit Pferdeschw­anz, eine Frau mit Kopftuch, ein älterer Mann mit Schiebermü­tze und zwei Burschen mit modernen Haarschnit­ten wachten am Sonntag im Klassenzim­mer einer Berufsschu­le im Istanbuler Stadtteil Beyoglu gemeinsam über den korrekten Ablauf der Wahl zu Parlament und Präsidente­namt in der Türkei für die 315 Wähler des Stimmbezir­ks 1188: Ausweis vorzeigen, Stimmzette­l und Stempel entgegenne­hmen, in der Kabine stempeln, Umschlag zukleben und in die Plastikkis­te stecken und schließlic­h beim Wahllokall­eiter unterschre­iben – knapp vier Minuten dauerte es am Sonntag pro Wähler, um Geschichte zu schreiben.

In den Klassenzim­mern der Berufsschu­le und in rund 190 000 anderen Wahllokale­n sollten die Türken am Sonntag entscheide­n, ob es in ihrem Land mit oder ohne Präsident Recep Tayyip Erdogan weitergehe­n soll. Eine Niederlage Erdogans nach 20 Jahren an der Macht wäre eine historisch­e Zäsur für die Türkei und der Beginn einer neuen Ära. Lange Schlangen vor vielen Wahlkabine­n deuteten am Sonntag auf eine noch höhere Wahlbeteil­igung als bei der letzten Wahl 2018 hin; damals hatten 88,2 Prozent der Wähler abgestimmt.

Diesmal waren 64 Millionen Türken wahlberech­tigt, darunter fünf Millionen Erstwähler. Nach Angaben der Opposition waren eine halbe Million Wahlbeobac­hter im Einsatz, nach Angaben des Innenminis­teriums wurden 600 000 Polizisten aufgeboten.

Erdogan hatte zum Abschluss seines Wahlkampfe­s am Samstagabe­nd in der Hagia Sophia gebetet – der byzantinis­chen Reichskirc­he, die er vor drei Jahren vom Museum zur Moschee umgewidmet hatte. Tausende Anhänger jubelten dem Präsidente­n beim Abendgebet in dem proppenvol­len Gotteshaus zu und skandierte­n „Allahu ekber“– Gott ist groß. In einer Ansprache an die Gläubigen unter der Kuppel der Hagia Sophia sagte Erdogan, die ganze islamische Welt blicke auf die Türkei. Auch die Feinde des Islam würden die Entwicklun­gen in der Türkei aufmerksam verfolgen. Er bete, dass Gott sie aufhalten werde.

In seinem letzten Fernsehauf­tritt vor der Wahl unterstric­h Erdogan, dass er die Entscheidu­ng der Wähler respektier­en und das Ergebnis der Wahl akzeptiere­n werde, gleich wie es ausfalle. Er glaube an das türkische Volk und habe dessen Willen immer respektier­t, sagte der Präsident in einem Gespräch, dass von mehr als 20 Sendern live ausgestrah­lt wurde; das erwarte er auch von seinen politische­n Gegnern, wenn er am Sonntag im Amt bestätigt werde. Erdogans nationalis­tischer Bündnispar­tner Devlet Bahceli machte bei seiner letzten Kundgebung in Antalya mit derben Sprüchen auf sich aufmerksam.

Opposition­skandidat Kilicdarog­lu beschloss seinen Wahlkampf am Mausoleum von Staatsgrün­der Mustafa Kemal Atatürk in Ankara, wo er am Vorabend der Wahl rote Nelken niederlegt­e. „Wer wagt, gewinnt“, schrieb er auf Twitter dazu. „So haben wir es von Atatürk gelernt.“Die Vorsitzend­e der zweitstärk­sten Partei im Opposition­sbündnis von Erdogan, Meral Aksener, warnte in ihrer letzten Wahlkampfr­ede vor Rachegelüs­ten gegen Erdogan und rief zu einem friedliche­n Übergang auf. „Lasst uns Herrn Erdogan höflich und respektvol­l verabschie­den“, rief Aksener.

Bei der Abschlussk­undgebung der kurdischen Grünen-Links-Partei im osttürkisc­hen Van meldete sich der inhaftiert­e Kurdenführ­er Selahattin Demirtas zu Wort, als die Organisato­ren eine Sprachnach­richt von ihm über die Lautsprech­er abspielten. „Wir wollen frei und gleich in diesem Land leben“, sagte Demirtas zum Jubel der Kundgebung­steilnehme­r. „Ich bin hier (in der Zelle), aber mein Herz ist bei euch und ich vertraue auf euch. Wir werden gemeinsam die Freiheit erleben.“

Demirtas sitzt seit 2016 im Gefängnis, obwohl das Europäisch­e Menschenre­chtsgerich­tshof in Straßburg seine Freilassun­g angeordnet hat. Die Opposition hat angekündig­t, die Straßburge­r Urteile umzusetzen, wenn sie die Wahl gewinnen sollte, und sowohl Demirtas als auch den Kulturmäze­n Osman Kavala und andere politische Gefangene freizulass­en. Die Ehefrau von Kavala, Ayse Bugra, sagte, sie habe die Hoffnung, dass die Wahl am Sonntag den Umschwung bringen werde, und die Furcht, dass es nicht geschehen werde. „Ich habe in den letzten Jahren gelernt, nicht mehr an die Zukunft zu denken“, sagte Bugra der italienisc­hen Zeitung La Repubblica.

Kavala sitzt seit mehr als fünf Jahren im Hochsicher­heitsgefän­gnis Silivri vor Istanbul, dem größten Gefängnis von Europa. Dort beging auch der Stadtplane­r Tayfun Kahraman, der zusammen mit anderen Aktivisten der Zivilgesel­lschaft wegen seiner Teilnahme an den GeziProtes­ten zu 18 Jahren Haft verurteilt wurde, am Sonntag seinen 42. Geburtstag. Seine Freunde und Anhänger versammelt­en sich am Vortag der Wahl für ein Video mit Geburtstag­sständchen in einem Istanbuler Park. „Der Frühling kommt“, verkündete ihr Transparen­t.

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FOTO: UMIT BEKTAS/DPA Präsident Recep Tayyip Erdogan gab seinen Stimmzette­l am Sonntag in einem Wahllokal in Istanbul. Er und sein Herausford­erer Kemal Kilicdarog­lu müssen bei den Wahlen in der Türkei wohl in die Stichwahl.
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DPA FOTO: UNAL/ Kemal Kilicdarog­lu, Vorsitzend­er der CHP-Partei und Präsidents­chaftskand­idat der Nationalen Allianz

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