Mitreißende Überforderung im Theater-Neuland
Mit dem Ballettabend „The Privacy of Things“kommt man an den digitalen Puls der Zeit – und an die Grenzen der eigenen Aufnahmefähigkeit. Doch das Publikum ließ sich vom experimentellen Spirit mitreißen – und kreierte sogar die zweite Hälfte des Stücks selbst in Zusammenarbeit mit Künstlicher Intelligenz.
SAARBRÜCKEN Mut liegt in der Natur ernstzunehmender Kunst, aber wenn es tollkühn wird, darf man allein dies zum Anlass nehmen, den Hut zu ziehen. Oder mehr noch: Man darf sich mitreißen lassen von der Abenteuerlust der Akteure. So geschehen am Freitag in der Alten Feuerwache in Saarbrücken – bei der Uraufführung des Ballettabends „Privacy of Things“, an dessen Ende das Publikum schier endlos applaudierte. Obwohl sich nichts zu einem ästhetischen Ganzen fügte wie sonst üblich und das Übermaß an optischen Eindrücken und Informationen zweifellos eine Überforderung darstellte.
Bereits die Bühnen- und Sitzraumgestaltung von Sebastian Hannak gab den unkonventionellen interaktiven Grundton vor. Ein Teil des Publikums saß auf der Spielfläche, für alle anderen gut sichtbar, und zwischen und neben ihnen performten die Tänzer und Live-Musiker. Auch in die
Zuschauertribüne waren Podeste für Auftritte eingelassen, mitunter posierten die Tänzer wie Skulpturen. Näher kam man der Company noch nie – und zugleich ins Grübeln über Intimität und Öffentlichkeit, Individuum und Kollektiv, den eigenen Freiraum. Begriffe, die auch in Text-Schnipseln über Screens rollten oder von Tänzern – meist auf Englisch – gesprochen wurden. Als einziges verbindendes ästhetisches Prinzip lassen sich Zersplitterung und Unübersichtlichkeit ausmachen.
Der Abend ist zweigeteilt. Die erste Phase beruht auf konventionellen Proben, die zweite, kürzere, wird im Moment der Aufführung kreiert. Meisterhaft verwischt Ballettchef Stijn Celis im ersten Teil die Grenzen zwischen Improvisationen und exakt gestalteten Formationen, jedem einzelnen Tänzer ordnet er eine eigene individuelle Bewegungssprache zu, ohne zu stark ins
Pantomimische zu driften. Das vorgegebene Repertoire müssen die Tänzer im zweiten Teil des Abends dann in großer Freiheit selbst überformen, denn eingespielt wird eine für sie unbekannte Musik, neu zusammengesetzt aus Mosaikteilchen der Partitur aus dem ersten Teil.
Eine Neuerfindung ist diese Spontan-Performance nicht, die Wurzeln lassen sich im Ausdruckstanz finden, der Ballett nicht mehr als Abfolge einstudierter Tanzfiguren definierte, sondern als einen die Tänzer-Persönlichkeit spiegelnden schöpferischen Akt.
Auffällig: Celis lässt seine Choreographie in synchronen KürzestSequenzen zerbersten, man schaut einer Explosion der Einzel-Teilchen zu. Verstärkt wird der dynamische Eindruck durch die Kostüme von Laura Theiss. Zwar stecken alle Tänzer in den gleichen knackengen Ganzkörper-Suits, die in krassen Neonfarben leuchten, doch sie unterschieden sich in Buntheit, Muster und Materialität. Mancher Tänzer trägt Blümchen auf dem Bauch, bei anderen wachsen Noppen auf der Haut, und wieder andere kommen schlicht unifarben daher. Viele glänzen, als habe man sie in Plastik gebadet. Es ist ein üppiges Festmahl für die Augen, schön anstrengend. Womöglich bleibt deshalb wenig Aufmerksamkeit für die sieben Blas-Musiker, die im zweiten Teil des Abends schier Unglaubliches leisten: Sie spielen eine Partitur, die ihnen im Moment des Auftritts auf ihr Tablet übertragen wird. Der Komponist? Ein Quartett: der Staatstheater-Schlagzeuger Martin Hennecke, die Künstliche Intelligenz, die Tänzer und das Publikum.
Ja, wir befinden uns auf digitalem Theater-Neuland, das das SST mit „Privacy of Things“zum zweiten Mal betritt. Im vergangenen Jahr hatte Hennecke bereits das vermutlich deutschlandweit erste KI-Konzert „The (un)answered question“entwickelt, damit viel Aufmerksamkeit erregt, auch einen Innovationspreis bekommen. Damals wie jetzt wieder spielt ein Publikumsfragebogen eine entscheidende Rolle, mit dessen Daten die KI gefüttert wird. Haben Sie schon mal einen Baum umarmt? Da die Antworten immer anders ausfallen, differiert die Musik von Vorstellung zu Vorstellung. So erzeugt Hennecke Einzigartigkeit. Das war und ist Ziel des Experimentes. Mit dem Bühnengeschehen lassen sich die Fragen dann freilich gar nicht in Verbindung bringen – ein Manko.
Dieselben Fragen hatte Hennecke übrigens auch den Tänzern im Vorfeld der Proben gestellt, um
Material für die KI-Soundtracks zu generieren, aus denen er seine Basiskomposition zusammensetzte. Wie genau das vonstattenging, das war dann selbst im Publikumsgespräch zu kompliziert zu erklären. Kostümbildnerin Laura Theiss wiederum berichtete von ebenso beängstigenden wie amüsanten Erlebnissen. Denn die KI schlug ihr tatsächlich ein ähnlich extravagantes Design vor, wie sie selbst es mit Celis besprochen hatte. Doch dann wollte die KI auch noch Accessoires: Taschen und Flip Flops für Tänzer. Nein danke, sagte das Team und machte dann doch das eigene menschliche Ding. Heraus gekommen ist ein staunenswerter Abend – intensiv und ein bisschen crazy.
Es gibt fünf weitere Termine: 18. Mai, 19. Mai, 20. Mai, 8. Juni, 16. Juni.