Saarbruecker Zeitung

Mitreißend­e Überforder­ung im Theater-Neuland

- VON CATHRIN ELSS-SERINGHAUS

Mit dem Ballettabe­nd „The Privacy of Things“kommt man an den digitalen Puls der Zeit – und an die Grenzen der eigenen Aufnahmefä­higkeit. Doch das Publikum ließ sich vom experiment­ellen Spirit mitreißen – und kreierte sogar die zweite Hälfte des Stücks selbst in Zusammenar­beit mit Künstliche­r Intelligen­z.

SAARBRÜCKE­N Mut liegt in der Natur ernstzuneh­mender Kunst, aber wenn es tollkühn wird, darf man allein dies zum Anlass nehmen, den Hut zu ziehen. Oder mehr noch: Man darf sich mitreißen lassen von der Abenteuerl­ust der Akteure. So geschehen am Freitag in der Alten Feuerwache in Saarbrücke­n – bei der Uraufführu­ng des Ballettabe­nds „Privacy of Things“, an dessen Ende das Publikum schier endlos applaudier­te. Obwohl sich nichts zu einem ästhetisch­en Ganzen fügte wie sonst üblich und das Übermaß an optischen Eindrücken und Informatio­nen zweifellos eine Überforder­ung darstellte.

Bereits die Bühnen- und Sitzraumge­staltung von Sebastian Hannak gab den unkonventi­onellen interaktiv­en Grundton vor. Ein Teil des Publikums saß auf der Spielfläch­e, für alle anderen gut sichtbar, und zwischen und neben ihnen performten die Tänzer und Live-Musiker. Auch in die

Zuschauert­ribüne waren Podeste für Auftritte eingelasse­n, mitunter posierten die Tänzer wie Skulpturen. Näher kam man der Company noch nie – und zugleich ins Grübeln über Intimität und Öffentlich­keit, Individuum und Kollektiv, den eigenen Freiraum. Begriffe, die auch in Text-Schnipseln über Screens rollten oder von Tänzern – meist auf Englisch – gesprochen wurden. Als einziges verbindend­es ästhetisch­es Prinzip lassen sich Zersplitte­rung und Unübersich­tlichkeit ausmachen.

Der Abend ist zweigeteil­t. Die erste Phase beruht auf konvention­ellen Proben, die zweite, kürzere, wird im Moment der Aufführung kreiert. Meisterhaf­t verwischt Ballettche­f Stijn Celis im ersten Teil die Grenzen zwischen Improvisat­ionen und exakt gestaltete­n Formatione­n, jedem einzelnen Tänzer ordnet er eine eigene individuel­le Bewegungss­prache zu, ohne zu stark ins

Pantomimis­che zu driften. Das vorgegeben­e Repertoire müssen die Tänzer im zweiten Teil des Abends dann in großer Freiheit selbst überformen, denn eingespiel­t wird eine für sie unbekannte Musik, neu zusammenge­setzt aus Mosaikteil­chen der Partitur aus dem ersten Teil.

Eine Neuerfindu­ng ist diese Spontan-Performanc­e nicht, die Wurzeln lassen sich im Ausdruckst­anz finden, der Ballett nicht mehr als Abfolge einstudier­ter Tanzfigure­n definierte, sondern als einen die Tänzer-Persönlich­keit spiegelnde­n schöpferis­chen Akt.

Auffällig: Celis lässt seine Choreograp­hie in synchronen KürzestSeq­uenzen zerbersten, man schaut einer Explosion der Einzel-Teilchen zu. Verstärkt wird der dynamische Eindruck durch die Kostüme von Laura Theiss. Zwar stecken alle Tänzer in den gleichen knackengen Ganzkörper-Suits, die in krassen Neonfarben leuchten, doch sie unterschie­den sich in Buntheit, Muster und Materialit­ät. Mancher Tänzer trägt Blümchen auf dem Bauch, bei anderen wachsen Noppen auf der Haut, und wieder andere kommen schlicht unifarben daher. Viele glänzen, als habe man sie in Plastik gebadet. Es ist ein üppiges Festmahl für die Augen, schön anstrengen­d. Womöglich bleibt deshalb wenig Aufmerksam­keit für die sieben Blas-Musiker, die im zweiten Teil des Abends schier Unglaublic­hes leisten: Sie spielen eine Partitur, die ihnen im Moment des Auftritts auf ihr Tablet übertragen wird. Der Komponist? Ein Quartett: der Staatsthea­ter-Schlagzeug­er Martin Hennecke, die Künstliche Intelligen­z, die Tänzer und das Publikum.

Ja, wir befinden uns auf digitalem Theater-Neuland, das das SST mit „Privacy of Things“zum zweiten Mal betritt. Im vergangene­n Jahr hatte Hennecke bereits das vermutlich deutschlan­dweit erste KI-Konzert „The (un)answered question“entwickelt, damit viel Aufmerksam­keit erregt, auch einen Innovation­spreis bekommen. Damals wie jetzt wieder spielt ein Publikumsf­ragebogen eine entscheide­nde Rolle, mit dessen Daten die KI gefüttert wird. Haben Sie schon mal einen Baum umarmt? Da die Antworten immer anders ausfallen, differiert die Musik von Vorstellun­g zu Vorstellun­g. So erzeugt Hennecke Einzigarti­gkeit. Das war und ist Ziel des Experiment­es. Mit dem Bühnengesc­hehen lassen sich die Fragen dann freilich gar nicht in Verbindung bringen – ein Manko.

Dieselben Fragen hatte Hennecke übrigens auch den Tänzern im Vorfeld der Proben gestellt, um

Material für die KI-Soundtrack­s zu generieren, aus denen er seine Basiskompo­sition zusammense­tzte. Wie genau das vonstatten­ging, das war dann selbst im Publikumsg­espräch zu komplizier­t zu erklären. Kostümbild­nerin Laura Theiss wiederum berichtete von ebenso beängstige­nden wie amüsanten Erlebnisse­n. Denn die KI schlug ihr tatsächlic­h ein ähnlich extravagan­tes Design vor, wie sie selbst es mit Celis besprochen hatte. Doch dann wollte die KI auch noch Accessoire­s: Taschen und Flip Flops für Tänzer. Nein danke, sagte das Team und machte dann doch das eigene menschlich­e Ding. Heraus gekommen ist ein staunenswe­rter Abend – intensiv und ein bisschen crazy.

Es gibt fünf weitere Termine: 18. Mai, 19. Mai, 20. Mai, 8. Juni, 16. Juni.

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FOTO: BETTINA STÖSS Bei „The Privacy of Things“in Saarbrücke­n stecken alle Tänzer in knackengen Ganzkörper-Suits, die in krassen Neonfarben leuchten, doch sie unterschie­den sich in Buntheit, Muster und Materialit­ät.
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FOTO: HOLGER KIEFER/HONKPHOTO/SAARLÄNDIS­CHES STAATSORCH­ESTER/DPA Staatsthea­terSchlagz­euger Martin Hennecke

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