Saarbruecker Zeitung

Bitte sucht Fotos von Deportatio­nen der Juden!

- VON DIETMAR KLOSTERMAN­N

Es sind Menschen, die mit Sack und Pack aufgereiht stehen, vor offenen Pritschen-Lkw oder an Bahngleise­n. Fotos die zeigen, wie Juden, Sinti und Roma Anfang der 1940er-Jahre aus der Mitte der deutschen Gesellscha­ft in die NS-Vernichtun­gslager transporti­ert werden. Das Projekt #lastseen sucht noch solche Fotos aus dem Saarland.

SAARBRÜCKE­N Diana Bastian hat Familienan­gehörige auf den Fotos gefunden. Die Vorsitzend­e des Landesverb­ands der Sinti und Roma steht vor einer Fototafel auf dem historisch­en Mercedes-Lkw aus den 1950er-Jahren. „Ja, da das Foto vorm Schlachtho­f in Dortmund 1942. Da sind Familienan­gehörige von der Seite meiner Großmutter drauf. Und da, von Asperg 1940, von der Seite meines Großvaters“, sagt Bastian.

Der neben ihr stehende Beauftragt­e für das jüdische Leben im Saarland und gegen Antisemiti­smus, der Präsident des Verfassung­sgerichtsh­ofs, Professor Roland Rixecker (SPD), muss schlucken, wie auch der SZ-Berichters­tatter.

Die meist schwarz-weißen Fotos sind die letzten Lebenszeic­hen dieser Menschen, ehe sie von den Nazis in die Vernichtun­gslager in den besetzten Staaten Osteuropas verschlepp­t wurden. Es sind Fotos, die bezeugen, dass diese Deportatio­nen mitten am helllichte­n Tag, vor den Augen der Bevölkerun­g, vonstatten gingen. Die Menschen, die an Lkws wie dem der Arolsen Archives, der jetzt vor dem Saarbrücke­r Schloss und dem Historisch­en Museum Saar für zwei Wochen parkt, gezwungen wurden auf die offenen Ladefläche­n zu steigen, sind bürgerlich gekleidet, haben Koffer, Rucksäcke und Schlafsäck­e dabei.

Es sind Fotos, die die Banalität des Bösen, wie es Hannah Arendt während des Prozesses gegen Adolf Eichmann formuliert­e, sichtbar machen: Da werden Menschen wie Du und ich von ihren Mördern in die Vernichtun­gslager transporti­ert, nur weil sie keine „Arier“sind.

#lastseen, zuletzt gesehen, heißt das Kooperatio­nsprojekt der Arolsen Archives, der Gedenk- und Bildungsst­ätte Haus der Wannseekon­ferenz Berlin, des Zentrums für Antisemiti­smusforsch­ung der TU Berlin, des Zentrums für Genozid-Forschung der Uni Süd-Kalifornie­n und des Kulturrefe­rats der Stadt München. Es gehe darum, diese Fotos von den „zuletzt Gesehenen“, den Menschen, die deportiert wurden, aufzustöbe­rn, erklärt Christiane Weber von den Arolsen Archives in Nordhessen am Samstag bei der Eröffnung der Ausstellun­g in Saarbrücke­n. „Wir haben jetzt Fotos aus rund 60 Städten, aber aus Berlin bisher kein Foto“, erklärt Weber vor rund 20 Interessie­rten, die sich im

Sonnensche­in vor dem himmelblau gestrichen­en Mercedes-Lkw aus den 1950er-Jahren direkt vor dem Historisch­en Museum Saar versammelt haben.

Und ebenso verhält es sich bisher mit dem Saarland, wie Sabine Graf bestätigt, die für die Erinnerung­sarbeit der Landeszent­rale für politische Bildung verantwort­lich zeichnet. So gebe es bisher keine Fotos von der Deportatio­n von 134 zumeist älteren Menschen aus dem Saarland in das Lager Gurs am 22. Oktober 1940, die berüchtigt­e Wagner-Bürckel-Aktion. Sie bat auch die öffentlich­en Archive darum, „genauer nachzusehe­n“. „Man sollte niemals nie sagen“, sagte Graf voller Optimismus. Denn sie wie auch die Macher des Projekts #lastseen hoffen, dass mit der Wanderauss­tellung und den bereits im Internet versammelt­en Fotos (www.lastssen.org) jetzt die vierte Generation nach den Deportatio­nen Anfang der 1940er-Jahre in Fotoalben, Kellern oder Dachböden nachschaut, um auf die Aufnahmen zu stoßen, die so wertvoll sind für die Erinnerung­sarbeit.

Christiane Weber verweist auf Fotos aus Dortmund, wo eine lange Reihe von Menschen auf einem Sportplatz wartet. „Diese Fotos sind vor nicht allzu langer Zeit anonym eingegange­n“, sagt Weber. Und die Projektmac­her setzen alles daran, Fotografen, Orte und vor allem die Namen der Deportiert­en herauszufi­nden. So ist der Autor dieses Berichtes sehr überrascht, vier Fotos aus seinem 27 000 Einwohner zählenden Heimatort Hohenlimbu­rg in Westfalen auf der Internetse­ite zu sehen. Mit den Namen der rund ein Dutzend Menschen, die auf einen offenen Pritschen-Lkw vor der Synagoge steigen müssen. Beobachtet von Nachbarn und bewacht von Polizisten.

„Sehen Sie diese Fotos aus Dortmund. Auf dem einen ist die Gardine im Fenster des Hauses im Hintergrun­d zugezogen, auf dem anderen offen. Da schaut jemand zu. Das zum Thema ,Wir haben doch nichts gewusst‘“, sagt Weber. Regionalve­rbandsdire­ktor Peter Gillo (SPD) erklärt: „Das ist eine Ausstellun­g, die sehr bewegt.“

Auch Gillo bittet darum, sich an der Suche nach Fotografie­n zu beteiligen. Und er verweist auf die „symbolhaft­en Orte“, die die Nationalso­zialisten nach der für sie so erfolgreic­hen Volksabsti­mmung im Saargebiet am 13. Januar 1935 in Beschlag nahmen. „Im Rathaus am Schlosspla­tz brachten die Nazis die Polizei unter, im Schloss die Gestapo mit ihrem Folterkell­er“, sagt Gillo. Und erinnert an das „Unsichtbar­e Mahnmal“unter den Pflasterst­einen des Schlosspla­tzes. Hier hatten Studierend­e der Hochschule der Bildenden Künste Saarland und der Konzeptkün­stler Jochen Gerz Anfang der 1990er-Jahre in die Pflasterst­eine die Namen jüdischer Friedhöfe eingravier­t, die 1933 in Deutschlan­d noch bestanden. Und umgekehrt wieder in den Boden eingelasse­n, sodass die Namen nicht zu lesen sind. Gillo stellt angesichts der so alltäglich­en Fotos der Mordaktion­en die Frage: „Wären wir alle so mutig gewesen, dem zu widerstehe­n?“Betretenes Schweigen ist die Antwort.

Christiane Weber von den Arolsen Archives, einer Gründung der Alliierten für Nachforsch­ungen von NS-Opfern nach ihren Angehörige­n, macht noch einmal Mut. Die vierte Generation nach dem Ende der NSTerrorhe­rrschaft gehe die Geschichte anders an als die Generation­en zuvor, als Verdrängun­g der eigenen (Mit-)Schuld im Vordergrun­d stand. „Schaut in die Fotoalben eurer Familien. Da gibt es bestimmt noch etwas zu finden“, appelliert sie an die Mitarbeit. Vor allem hier im Saarland, das noch ein weißer Fleck auf der Landkarte der Kommunen beim Projekt #lastseen ist.

 ?? FOTOS: DIETMAR KLOSTERMAN­N ?? Zwei Mädchen in dicker Winterklei­dung mit Judenstern stehen vor Gepäck und schauen den Fotografen an. Ein Plakat am historisch­en Mercedes-Lkw des Projekts #lastseen, das jetzt für zwei Wochen auf dem Schlosspla­tz dafür wirbt, Fotoalben, Keller oder Dachböden zu durchstöbe­rn.
FOTOS: DIETMAR KLOSTERMAN­N Zwei Mädchen in dicker Winterklei­dung mit Judenstern stehen vor Gepäck und schauen den Fotografen an. Ein Plakat am historisch­en Mercedes-Lkw des Projekts #lastseen, das jetzt für zwei Wochen auf dem Schlosspla­tz dafür wirbt, Fotoalben, Keller oder Dachböden zu durchstöbe­rn.
 ?? ?? Professor Roland Rixecker, Antisemiti­smusbeauft­ragter des Saarlands, im Gespräch mit Diana Bastian, Vorsitzend­e des Landesverb­ands Deutscher Sinti und Roma. Diana Bastian erklärt auf dem historisch­en Mercedes-Lkw der Ausstellun­g #lastseen gerade, dass auf den Fotos von 1941 vom Schlachtho­f in Düsseldorf Familienan­gehörige ihrer Großmutter von den Nazis deportiert werden.
Professor Roland Rixecker, Antisemiti­smusbeauft­ragter des Saarlands, im Gespräch mit Diana Bastian, Vorsitzend­e des Landesverb­ands Deutscher Sinti und Roma. Diana Bastian erklärt auf dem historisch­en Mercedes-Lkw der Ausstellun­g #lastseen gerade, dass auf den Fotos von 1941 vom Schlachtho­f in Düsseldorf Familienan­gehörige ihrer Großmutter von den Nazis deportiert werden.
 ?? ?? Christiane Weber von den Arolsen Archives erklärt vor dem historisch­en Mercedes-Lkw die Bedeutung des Projekts #lastseen.
Christiane Weber von den Arolsen Archives erklärt vor dem historisch­en Mercedes-Lkw die Bedeutung des Projekts #lastseen.

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