Saarbruecker Zeitung

Nationalis­mus ist nach der Wahl die neue Religion der Türkei

- VON SUSANNE GÜSTEN Produktion dieser Seite: Markus Renz, Martin Wittenmeie­r

Wenn das neue türkische Parlament am kommenden Montag zusammentr­itt, wird es von dem Rechtsnati­onalisten Devlet Bahceli eröffnet – und das passt. Bahceli ist mit seinen 75 Jahren nicht nur Alterspräs­ident der 600 Abgeordnet­en, er ist auch ein altgedient­er Vorkämpfer türkischer Nationalis­ten – und die sind im neuen Parlament so stark wie noch nie. Die am vergangene­n Sonntag gewählte Volksvertr­etung ist das nationalis­tischste Parlament in der hundertjäh­rigen Geschichte der Türkischen Republik.

Nationalis­ten haben die Wahlen in der Türkei gewonnen, und sie sitzen in allen Lagern. Zwei Drittel der Volksvertr­eter in Ankara gehören rechtsgeri­chteten Parteien an: die Regierungs­partei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan, die nationalis­tische MHP von Bahceli und zwei weitere verbündete Parteien sowie die rechtsnati­onale IYI-Partei aus dem Opposition­slager, deren Vorsitzend­e Meral Aksener als Innenminis­terin in den 90er Jahren für Gräueltate­n gegen Kurden verantwort­lich war, und die Zukunftspa­rtei des früheren Premiers Ahmet Davutoglu. Der Sohn des gefürchtet­en Rechtsextr­emisten-Chefs Alparslan Türkes sitzt im neuen Parlament, ebenso der Sohn des früheren Ministerpr­äsidenten Necmettin Erbakan: die Erben der Galionsfig­uren islamisch-nationalis­tischer Politik vertreten nun das Volk. Linke oder sozialdemo­kratische Werte seien dagegen so schwach im Parlament vertreten wie seit Jahrzehnte­n nicht mehr, kommentier­te der Journalist Murat Yetkin. Noch nie seit Gründung der Republik 1923 habe es so viele Parlaments­abgeordnet­e aus der nationalis­tischen und islamistis­chen Ecke gegeben.

Selbst Erdogans AKP litt bei der Parlaments­wahl unter dem Rechtsruck. Die AKP landete bei 35,6 Prozent, sieben Prozentpun­kte weniger als bei der letzten Wahl 2018: eines ihrer schlechtes­ten Ergebnisse überhaupt. Nach Einschätzu­ng von Halil Ibrahim Yenigün von der Universitä­t

Virginia verlor Erdogans Partei ihre Wähler vor allem an nationalis­tische und national-islamistis­che Parteien.

Der Islam zählt im türkischen Nationalis­mus nicht als frommer Wert an sich, sondern als wesentlich­es Element türkischer Identität: Türke kann demnach nur sein, wer Muslim ist – deshalb schließt der türkische Nationalis­mus nicht-muslimisch­e Minderheit­en aus. Nur muslimisch zu sein, reicht aber nicht aus, um Nationalis­t zu sein – deshalb wendet sich der Nationalis­mus gegen islamische Reformtheo­logie.

Nicht nur im Parlament, auch im Rennen um die Präsidents­chaft geben Nationalis­ten den Ton an. Der Rechtsnati­onalist Sinan Ogan erhielt am Sonntag 5,2 Prozent der Stimmen und versucht nun, die Entscheidu­ng über das nächste Staatsober­haupt zu beeinfluss­en, obwohl er selbst nicht mehr dabei sein wird: Bei der Stichwahl am 28. Mai treten nur noch Erdogan und Opposition­skandidat Kemal Kilicdarog­lu an. Er will einen schärferen Ton gegenüber Flüchtling­en anschlagen. „Sobald ich an die Regierung komme, werde ich alle

Flüchtling­e nach Hause schicken. Punkt“, sagte Kilicdarog­lu am Donnerstag.

Ogan will eine Wahlempfeh­lung an Bedingunge­n knüpfen. So sollen ihm die Kandidaten verspreche­n, alle syrischen Flüchtling­e aus dem Land zu werfen und nicht mit Kurden zu sprechen. „Ich bin ein türkischer Nationalis­t“, sagt Ogan stolz. Ein Königsmach­er ist aber nicht, denn er hat keine Macht über seine knapp drei Millionen Wähler vom vergangene­n Sonntag. Ogan habe seine Wählerstim­men „nicht wegen seiner Persönlich­keit“bekommen, sondern aus Protest, sagt Alan Makovsky von der Denkfabrik CAP: Protest von Wählern, denen Erdogan und die MHP nicht radikal genug waren. „Die Türkei ist nun einmal ein nationalis­tisches Land“, sagt Makovsky. Viele Ogan-Wähler werden nach Einschätzu­ng von Experten am 28. Mai zum Regierungs­lager zurückkehr­en – ganz gleich, was Ogan sagt.

Bis zur Stichwahl geht es im Wahlkampf nun darum, welcher der beiden Kandidaten die Protestwäh­ler für sich gewinnen kann. Für Erdogan sind nationalis­tische Protestwäh­ler leichter zu erreichen als für

Kilicdarog­lu, der informell mit der kurdischen Partei YSP kooperiert und es sich nicht leisten kann, auf deren Stimmen zu verzichten. Türkischen Medienberi­chten strebt die AKP an, bei der Stichwahl die Hälfte der Ogan-Wähler für den Präsidente­n zu gewinnen; das würde Erdogan voraussich­tlich zur Wiederwahl reichen.

Die Karriere des 55-jährigen Ogan dürfte damit aber nicht zu Ende sein. Der Türkei-Experte Sinan Ciddi von der Universitä­t der US-Marines sieht Ogan als potenziell­en Nachfolger von Bahceli an der Spitze der Rechtspart­ei MHP. Ogan sei „die Zukunft dieser Bewegung“, sagte Ciddi in einer Online-Diskussion der amerikanis­chen Denkfabrik FDD. Die neue politische Landschaft der Türkei ist für Ogan wie geschaffen. Erdogan konnte mit einem nationalis­tischen Wahlkampf vor der ersten Runde der Präsidents­chaftswahl in Führung gehen. Der Präsident warb bei den Wählern für ein „Jahrhunder­t der Türkei“, empfahl sich als Pate einer modernen türkischen Rüstungsin­dustrie und warf der Opposition vor, sie sei mit dem Westen verbündet.

 ?? FOTO: OZBILICI/AP ?? Der Rechtsnati­onalist Sinan Ogan versucht Einfluss auf die Entscheidu­ng über das künftige Staatsober­haupt der Türkei zu nehmen.
FOTO: OZBILICI/AP Der Rechtsnati­onalist Sinan Ogan versucht Einfluss auf die Entscheidu­ng über das künftige Staatsober­haupt der Türkei zu nehmen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany