Nationalismus ist nach der Wahl die neue Religion der Türkei
Wenn das neue türkische Parlament am kommenden Montag zusammentritt, wird es von dem Rechtsnationalisten Devlet Bahceli eröffnet – und das passt. Bahceli ist mit seinen 75 Jahren nicht nur Alterspräsident der 600 Abgeordneten, er ist auch ein altgedienter Vorkämpfer türkischer Nationalisten – und die sind im neuen Parlament so stark wie noch nie. Die am vergangenen Sonntag gewählte Volksvertretung ist das nationalistischste Parlament in der hundertjährigen Geschichte der Türkischen Republik.
Nationalisten haben die Wahlen in der Türkei gewonnen, und sie sitzen in allen Lagern. Zwei Drittel der Volksvertreter in Ankara gehören rechtsgerichteten Parteien an: die Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan, die nationalistische MHP von Bahceli und zwei weitere verbündete Parteien sowie die rechtsnationale IYI-Partei aus dem Oppositionslager, deren Vorsitzende Meral Aksener als Innenministerin in den 90er Jahren für Gräueltaten gegen Kurden verantwortlich war, und die Zukunftspartei des früheren Premiers Ahmet Davutoglu. Der Sohn des gefürchteten Rechtsextremisten-Chefs Alparslan Türkes sitzt im neuen Parlament, ebenso der Sohn des früheren Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan: die Erben der Galionsfiguren islamisch-nationalistischer Politik vertreten nun das Volk. Linke oder sozialdemokratische Werte seien dagegen so schwach im Parlament vertreten wie seit Jahrzehnten nicht mehr, kommentierte der Journalist Murat Yetkin. Noch nie seit Gründung der Republik 1923 habe es so viele Parlamentsabgeordnete aus der nationalistischen und islamistischen Ecke gegeben.
Selbst Erdogans AKP litt bei der Parlamentswahl unter dem Rechtsruck. Die AKP landete bei 35,6 Prozent, sieben Prozentpunkte weniger als bei der letzten Wahl 2018: eines ihrer schlechtesten Ergebnisse überhaupt. Nach Einschätzung von Halil Ibrahim Yenigün von der Universität
Virginia verlor Erdogans Partei ihre Wähler vor allem an nationalistische und national-islamistische Parteien.
Der Islam zählt im türkischen Nationalismus nicht als frommer Wert an sich, sondern als wesentliches Element türkischer Identität: Türke kann demnach nur sein, wer Muslim ist – deshalb schließt der türkische Nationalismus nicht-muslimische Minderheiten aus. Nur muslimisch zu sein, reicht aber nicht aus, um Nationalist zu sein – deshalb wendet sich der Nationalismus gegen islamische Reformtheologie.
Nicht nur im Parlament, auch im Rennen um die Präsidentschaft geben Nationalisten den Ton an. Der Rechtsnationalist Sinan Ogan erhielt am Sonntag 5,2 Prozent der Stimmen und versucht nun, die Entscheidung über das nächste Staatsoberhaupt zu beeinflussen, obwohl er selbst nicht mehr dabei sein wird: Bei der Stichwahl am 28. Mai treten nur noch Erdogan und Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu an. Er will einen schärferen Ton gegenüber Flüchtlingen anschlagen. „Sobald ich an die Regierung komme, werde ich alle
Flüchtlinge nach Hause schicken. Punkt“, sagte Kilicdaroglu am Donnerstag.
Ogan will eine Wahlempfehlung an Bedingungen knüpfen. So sollen ihm die Kandidaten versprechen, alle syrischen Flüchtlinge aus dem Land zu werfen und nicht mit Kurden zu sprechen. „Ich bin ein türkischer Nationalist“, sagt Ogan stolz. Ein Königsmacher ist aber nicht, denn er hat keine Macht über seine knapp drei Millionen Wähler vom vergangenen Sonntag. Ogan habe seine Wählerstimmen „nicht wegen seiner Persönlichkeit“bekommen, sondern aus Protest, sagt Alan Makovsky von der Denkfabrik CAP: Protest von Wählern, denen Erdogan und die MHP nicht radikal genug waren. „Die Türkei ist nun einmal ein nationalistisches Land“, sagt Makovsky. Viele Ogan-Wähler werden nach Einschätzung von Experten am 28. Mai zum Regierungslager zurückkehren – ganz gleich, was Ogan sagt.
Bis zur Stichwahl geht es im Wahlkampf nun darum, welcher der beiden Kandidaten die Protestwähler für sich gewinnen kann. Für Erdogan sind nationalistische Protestwähler leichter zu erreichen als für
Kilicdaroglu, der informell mit der kurdischen Partei YSP kooperiert und es sich nicht leisten kann, auf deren Stimmen zu verzichten. Türkischen Medienberichten strebt die AKP an, bei der Stichwahl die Hälfte der Ogan-Wähler für den Präsidenten zu gewinnen; das würde Erdogan voraussichtlich zur Wiederwahl reichen.
Die Karriere des 55-jährigen Ogan dürfte damit aber nicht zu Ende sein. Der Türkei-Experte Sinan Ciddi von der Universität der US-Marines sieht Ogan als potenziellen Nachfolger von Bahceli an der Spitze der Rechtspartei MHP. Ogan sei „die Zukunft dieser Bewegung“, sagte Ciddi in einer Online-Diskussion der amerikanischen Denkfabrik FDD. Die neue politische Landschaft der Türkei ist für Ogan wie geschaffen. Erdogan konnte mit einem nationalistischen Wahlkampf vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahl in Führung gehen. Der Präsident warb bei den Wählern für ein „Jahrhundert der Türkei“, empfahl sich als Pate einer modernen türkischen Rüstungsindustrie und warf der Opposition vor, sie sei mit dem Westen verbündet.