Ukrainische Luftverteidigung wird stetig besser
Russland hat sich beim Überfall auf die Ukraine in vielerlei Hinsicht verrechnet. So bieten die Verteidiger den Invasoren auch bei der Luftverteidigung zunehmend Paroli – dank westlicher Ausrüstung und wachsender Erfahrung.
(ap) Wenn die Einwohner von Kiew die Luftschutzsirenen hören, vor einem unmittelbar bevorstehenden russischen Angriff gewarnt werden, sind die ukrainischen Flugabwehr-Einheiten schon in Bewegung. Von ihren getarnten Stellungen aus rollen sie im Eiltempo in Lastwagen auf Äcker in der Umgebung der Hauptstadt – bereit, gegnerische Drohnen oder Raketen abzuschießen.
Solche nächtlichen Szenen spielen sich fast täglich ab, seit die russischen Invasoren nach einer fast zweimonatigen weitgehenden Pause am 28. April wieder mit regelmäßigen Angriffen auf Kiew begonnen haben. Aber den ukrainischen Einheiten ist es in dieser Zeit gelungen, jede Drohne und jede Rakete abgefangen, die auf die Hauptstadt angefeuert worden sind.
Es ist ein großer Fortschritt seit den frühen Tagen des Krieges, als zahlreiche russische Raketen und Flugzeuge große Teile der ukrainischen Luftverteidigung durchbrachen und Kiews Flugabwehrkräften schwere Verluste zufügten. Mit Hilfe westlicher Waffen und dank größerer Erfahrungen haben es die ukrainischen Luftverteidiger in den vergangenen 14 Monaten geschafft, Leben und Infrastruktur besser vor den Angreifern zu schützen und Russland daran zu hindern, eine Luftüberlegenheit zu gewinnen – ein überaus wichtiger Erfolg, der sich bei einer erwarteten baldigen Gegenoffensive der Ukrainer zusätzlich auszahlen könnte.
Die verbesserte Flugabwehr habe russische Flugzeuge davon abgeschreckt, tief hinter die Frontlinien vorzudringen, und „den Verlauf des
Krieges stark geformt“, schrieb Ian Williams von der Denkfabrik Center for Strategic and International Studies (CSIS) kürzlich in einer Analyse. Tatsächlich hat Russland ukrainischen Luftwaffen-Berichten zufolge seit dem 28. April 87 Raketen und 114 Drohnen gegen die Ukraine eingesetzt, aber nur sieben Raketen und elf Drohnen kamen durch – und keine traf Kiew.
Und nach ukrainischen Angaben gelang es den eigenen Einheiten kürzlich, Russlands modernste Hyperschallrakete abzuschießen – eine Waffe, die sie zuvor für nicht zu stoppen hielten. Eine unlängst von den USA gelieferte Patriot-Raketenabwehr-Batterie änderte das.
Am ersten Tag der Invasion, die am 24. Februar 2022 begann, hatte Russland gezielt die bodengestützten Luftverteidigungssysteme der Ukraine ins Visier genommen, zuerst mit einer Welle von Raketen, dann mit Dutzenden Bombereinsätzen unterstützt durch elektronische Mittel zur Kriegsführung, die für das ukrainische Radar praktisch unsichtbar waren, wie Justin Bronk vom Center for Naval Analysis unlängst erklärte. Aber die Ukraine hatte vor den russischen Angriffen von Verbündeten geheimdienstliche Informationen erhalten und konnte mobile Einheiten rechtzeitig in Sicherheit bringen, wenn auch manche feste Stellungen zerstört wurden.
Die Einheiten waren verstreut, und für eine kurze Zeit konnte Russland in Wellen durch Kampfjets unterstützte Hubschrauberangriffe ausführen, bei deren Abwehr die Ukrainer eine Reihe von Flugzeugen verloren. Aber die Russen versäumten es dann, auf ihren anfänglichen Angriffen aufzubauen, was es den Ukrainern erlaubte, sich schnell neu zu organisieren, wie Douglas Barrie, ein Luftfahrt-Verteidigungsexperte des International Institute for Strategic Studies in London, erläutert. „Sie sind nicht zurückgekommen und haben gecheckt: Haben wir es zerstört? Funktionsunfähig gemacht? Müssen wir es noch mal tun? Haben sie ihren Standort geändert?“
Der Brigadekommandeur des sogenannten Kommandozentrums für ukrainische Luftverteidigung ist ein Oberst, der aus Sicherheitsgründen
nur als „Granit“– sein militärischer Kennname – identifiziert werden kann. Wie er kürzlich schilderte, wurde seine Brigade am ersten Tag des Krieges von 20 russischen Raketen getroffen, Menschen starben, Unterkünfte und Kommandoposten wurden zerstört. Jetzt operiert seine Einheit strikt nur noch in Form mobiler Teams, die schnell aktiv werden und genauso schnell wieder verschwinden können.
Generell waren am dritten Tag des Krieges nach den anfänglichen Rückschlägen wieder genügend mobile ukrainische Einheiten einsatzbereit, um eine Reihe von Jets abschießen zu können – was Russland zwang, seine Angriffsflugzeuge zurückzuziehen und ihnen damit einen Schlüsselvorteil nahm.
Aber viele russische Raketen kamen denn doch durch. „Granit“schätzt, dass die ukrainischen Kräfte in den frühen Monaten des Krieges etwa 50 Prozent der anfliegenden Raketen abfangen konnten. Doch im Zuge der Ankunft neuer westlicher Luftverteidigungssysteme im Oktober und November und wachsender Erfahrungen hat die Ukraine nach eigenen Angaben ihre Abfangrate bis Dezember auf etwa 80 Prozent gesteigert. Heute, so sagt „Granit“, liegt die Zahl sogar näher bei 90 Prozent, und Flugabwehrsysteme um Kiew haben seit dem 28. April 100 Prozent der auf die Stadt abgeschossenen Raketen zerstört. „Kiew ist geschützt“, sagt er.
Zwei seit Kriegsbeginn von der Ukraine benutzte Schlüsselwaffen waren aus der Sowjetära stammende Langstreckensysteme vom Typ S300 und Buk-Mittelstreckensysteme, auch als SA-10 und SA-11 bekannt. Mittlerweile sind neue Systeme von westlichen Verbündeten hinzugekommen, so Iris-T-Batterien aus Deutschland im Oktober und Nasams-Flugabwehrsysteme aus amerikanischer und norwegischer Schmiede im November. Die Ukraine hat zudem europäische Samp/T-Systeme und amerikanische Hawk-Raketen erhalten, und im April kamen zwei in den USA produzierte Patriot-Batterien hinzu.
Und Weiteres ist in der Pipeline. So haben die USA just ein zusätzliches, 1,2 Milliarden Dollar schweres Paket an militärischen LangzeitHilfen bekannt gegeben, das unter anderem neue Hawk-Systeme und Drohnen einschließt.
Vor diesem Hintergrund scheint die Moral unter „Granits“Soldaten hoch zu sein. So bei „Beetle“, der am ersten Tag des Krieges einen russischen Helikopter abschoss, mit einer von der Schulter aus abgefeuerten Rakete. Der Erfolg hat ihm Selbstvertrauen gegeben, das geblieben ist. „Ich habe erkannt (...), dass wir kämpfen können“, sagt er. „Sie (die Russen) sind also nicht so furchterregend.“