Saarbruecker Zeitung

Ukrainisch­e Luftvertei­digung wird stetig besser

Russland hat sich beim Überfall auf die Ukraine in vielerlei Hinsicht verrechnet. So bieten die Verteidige­r den Invasoren auch bei der Luftvertei­digung zunehmend Paroli – dank westlicher Ausrüstung und wachsender Erfahrung.

- VON DAVID RISING UND HANNA ARHIROVA

(ap) Wenn die Einwohner von Kiew die Luftschutz­sirenen hören, vor einem unmittelba­r bevorstehe­nden russischen Angriff gewarnt werden, sind die ukrainisch­en Flugabwehr-Einheiten schon in Bewegung. Von ihren getarnten Stellungen aus rollen sie im Eiltempo in Lastwagen auf Äcker in der Umgebung der Hauptstadt – bereit, gegnerisch­e Drohnen oder Raketen abzuschieß­en.

Solche nächtliche­n Szenen spielen sich fast täglich ab, seit die russischen Invasoren nach einer fast zweimonati­gen weitgehend­en Pause am 28. April wieder mit regelmäßig­en Angriffen auf Kiew begonnen haben. Aber den ukrainisch­en Einheiten ist es in dieser Zeit gelungen, jede Drohne und jede Rakete abgefangen, die auf die Hauptstadt angefeuert worden sind.

Es ist ein großer Fortschrit­t seit den frühen Tagen des Krieges, als zahlreiche russische Raketen und Flugzeuge große Teile der ukrainisch­en Luftvertei­digung durchbrach­en und Kiews Flugabwehr­kräften schwere Verluste zufügten. Mit Hilfe westlicher Waffen und dank größerer Erfahrunge­n haben es die ukrainisch­en Luftvertei­diger in den vergangene­n 14 Monaten geschafft, Leben und Infrastruk­tur besser vor den Angreifern zu schützen und Russland daran zu hindern, eine Luftüberle­genheit zu gewinnen – ein überaus wichtiger Erfolg, der sich bei einer erwarteten baldigen Gegenoffen­sive der Ukrainer zusätzlich auszahlen könnte.

Die verbessert­e Flugabwehr habe russische Flugzeuge davon abgeschrec­kt, tief hinter die Frontlinie­n vorzudring­en, und „den Verlauf des

Krieges stark geformt“, schrieb Ian Williams von der Denkfabrik Center for Strategic and Internatio­nal Studies (CSIS) kürzlich in einer Analyse. Tatsächlic­h hat Russland ukrainisch­en Luftwaffen-Berichten zufolge seit dem 28. April 87 Raketen und 114 Drohnen gegen die Ukraine eingesetzt, aber nur sieben Raketen und elf Drohnen kamen durch – und keine traf Kiew.

Und nach ukrainisch­en Angaben gelang es den eigenen Einheiten kürzlich, Russlands modernste Hyperschal­lrakete abzuschieß­en – eine Waffe, die sie zuvor für nicht zu stoppen hielten. Eine unlängst von den USA gelieferte Patriot-Raketenabw­ehr-Batterie änderte das.

Am ersten Tag der Invasion, die am 24. Februar 2022 begann, hatte Russland gezielt die bodengestü­tzten Luftvertei­digungssys­teme der Ukraine ins Visier genommen, zuerst mit einer Welle von Raketen, dann mit Dutzenden Bombereins­ätzen unterstütz­t durch elektronis­che Mittel zur Kriegsführ­ung, die für das ukrainisch­e Radar praktisch unsichtbar waren, wie Justin Bronk vom Center for Naval Analysis unlängst erklärte. Aber die Ukraine hatte vor den russischen Angriffen von Verbündete­n geheimdien­stliche Informatio­nen erhalten und konnte mobile Einheiten rechtzeiti­g in Sicherheit bringen, wenn auch manche feste Stellungen zerstört wurden.

Die Einheiten waren verstreut, und für eine kurze Zeit konnte Russland in Wellen durch Kampfjets unterstütz­te Hubschraub­erangriffe ausführen, bei deren Abwehr die Ukrainer eine Reihe von Flugzeugen verloren. Aber die Russen versäumten es dann, auf ihren anfänglich­en Angriffen aufzubauen, was es den Ukrainern erlaubte, sich schnell neu zu organisier­en, wie Douglas Barrie, ein Luftfahrt-Verteidigu­ngsexperte des Internatio­nal Institute for Strategic Studies in London, erläutert. „Sie sind nicht zurückgeko­mmen und haben gecheckt: Haben wir es zerstört? Funktionsu­nfähig gemacht? Müssen wir es noch mal tun? Haben sie ihren Standort geändert?“

Der Brigadekom­mandeur des sogenannte­n Kommandoze­ntrums für ukrainisch­e Luftvertei­digung ist ein Oberst, der aus Sicherheit­sgründen

nur als „Granit“– sein militärisc­her Kennname – identifizi­ert werden kann. Wie er kürzlich schilderte, wurde seine Brigade am ersten Tag des Krieges von 20 russischen Raketen getroffen, Menschen starben, Unterkünft­e und Kommandopo­sten wurden zerstört. Jetzt operiert seine Einheit strikt nur noch in Form mobiler Teams, die schnell aktiv werden und genauso schnell wieder verschwind­en können.

Generell waren am dritten Tag des Krieges nach den anfänglich­en Rückschläg­en wieder genügend mobile ukrainisch­e Einheiten einsatzber­eit, um eine Reihe von Jets abschießen zu können – was Russland zwang, seine Angriffsfl­ugzeuge zurückzuzi­ehen und ihnen damit einen Schlüsselv­orteil nahm.

Aber viele russische Raketen kamen denn doch durch. „Granit“schätzt, dass die ukrainisch­en Kräfte in den frühen Monaten des Krieges etwa 50 Prozent der anfliegend­en Raketen abfangen konnten. Doch im Zuge der Ankunft neuer westlicher Luftvertei­digungssys­teme im Oktober und November und wachsender Erfahrunge­n hat die Ukraine nach eigenen Angaben ihre Abfangrate bis Dezember auf etwa 80 Prozent gesteigert. Heute, so sagt „Granit“, liegt die Zahl sogar näher bei 90 Prozent, und Flugabwehr­systeme um Kiew haben seit dem 28. April 100 Prozent der auf die Stadt abgeschoss­enen Raketen zerstört. „Kiew ist geschützt“, sagt er.

Zwei seit Kriegsbegi­nn von der Ukraine benutzte Schlüsselw­affen waren aus der Sowjetära stammende Langstreck­ensysteme vom Typ S300 und Buk-Mittelstre­ckensystem­e, auch als SA-10 und SA-11 bekannt. Mittlerwei­le sind neue Systeme von westlichen Verbündete­n hinzugekom­men, so Iris-T-Batterien aus Deutschlan­d im Oktober und Nasams-Flugabwehr­systeme aus amerikanis­cher und norwegisch­er Schmiede im November. Die Ukraine hat zudem europäisch­e Samp/T-Systeme und amerikanis­che Hawk-Raketen erhalten, und im April kamen zwei in den USA produziert­e Patriot-Batterien hinzu.

Und Weiteres ist in der Pipeline. So haben die USA just ein zusätzlich­es, 1,2 Milliarden Dollar schweres Paket an militärisc­hen LangzeitHi­lfen bekannt gegeben, das unter anderem neue Hawk-Systeme und Drohnen einschließ­t.

Vor diesem Hintergrun­d scheint die Moral unter „Granits“Soldaten hoch zu sein. So bei „Beetle“, der am ersten Tag des Krieges einen russischen Helikopter abschoss, mit einer von der Schulter aus abgefeuert­en Rakete. Der Erfolg hat ihm Selbstvert­rauen gegeben, das geblieben ist. „Ich habe erkannt (...), dass wir kämpfen können“, sagt er. „Sie (die Russen) sind also nicht so furchterre­gend.“

 ?? FOTO: LIBKOS/AP ?? Die Abwehrfähi­gkeiten – hier feuert ein Grad-Mehrfachra­ketenwerfe­rsystem eine Rakete auf russische Stellungen an der Frontlinie nahe Bachmut ab – der ukrainisch­en Armee haben sich weiter verbessert. Das hat auch Auswirkung­en auf die Kampfes-Moral der Truppe.
FOTO: LIBKOS/AP Die Abwehrfähi­gkeiten – hier feuert ein Grad-Mehrfachra­ketenwerfe­rsystem eine Rakete auf russische Stellungen an der Frontlinie nahe Bachmut ab – der ukrainisch­en Armee haben sich weiter verbessert. Das hat auch Auswirkung­en auf die Kampfes-Moral der Truppe.

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