Protest in Gewalt – auch gegen Macrons Familie
Die Rentenreform hat die Gewaltbereitschaft in Frankreich verstärkt. Jüngst wurde ein Großneffe der First Lady verletzt.
Im Schaufenster türmen sich Pralinen, Macarons und Souvenirs. „Seit sechs Generationen“steht über dem Eingang zur Chocolaterie Jean Trogneux in Amiens. Das Geschäft ist eine feste Adresse in der Fußgängerzone der nordfranzösischen Stadt. Und seit einigen Wochen auch Zielscheibe der Gegnerinnen und Gegner der Rentenreform von Emmanuel Macron. Denn der Besitzer des Ladens mit mehreren Filialen in Nordfrankreich ist ein Großneffe der aus Amiens stammenden Präsidentengattin Brigitte Macron. Am Montagabend prügelten acht Angreifer vor seinem Geschäft auf Jean-Baptiste Trogneux ein, der eine Gehirnerschütterung und einen doppelten Rippenbruch erlitt „Ich dachte, sie würden ihn töten“, sagte der Vater des Opfers dem Fernsehsender BFM.
Die Attacke erfolgte nach dem Fernsehinterview des Präsidenten, das 40 Protestierende mit dem Geklapper von Kochtöpfen begleiteten – seit Wochen ein Protestmittel gegen Macrons umstrittene Rentenreform. „Es wird immer schlimmer. Jetzt auch noch die Familie des Präsidenten. Es reicht“, twitterte der Abgeordnete des Regierungslagers, Karl Olive.
Die Wut der Straße richtet sich direkt gegen die Person des Staatschefs, der die Rentenreform mit dem Verfassungsartikel 49.3 ohne Votum in der Nationalversammlung durchsetzte. Anfang April warfen Demonstrierende eine Rauchbombe in die Brasserie La Rotonde in Paris, in der Macron und seine Frau gerne essen.
Auch der Besitzer eines Cafés, in dem Macron bei einem Besuch in Südfrankreich vor einigen Wochen ein Bier trank, ist seither Anfeindungen ausgesetzt. „Macron sucht den Krieg. Er ist für die Reichen da, nicht für die Armen“, begründete Jimmy, einer der Angreifer auf Jean-Baptiste Trogneux, die Attacke.
Seit den Protesten der Gelbwesten 2018 ist Gewalt als Mittel des Protests zunehmend hoffähig geworden. Laut einer Umfrage vom März heißt ein Fünftel der Französinnen und Franzosen die Ausschreitungen gut, die sich am Rande der Demonstrationen gegen die Rentenreform zeigen. 30 Prozent sind der Meinung, dass die Regierung die Gewalttaten selbst mit ihrem Vorgehen provoziert habe.
Besonders hoch ist die Unterstützung für den gewaltsamen Widerstand unter den Anhängerinnen und Anhängern der Linkspartei La France Insoumise (LFI). Das zeigt sich auch in den aggressiven Gesten, zu denen sich LFI-Vertreter im Zuge der Rentendebatte hinreißen ließen. So veröffentlichte ein LFI-Parlamentarier ein Foto, auf dem er einen Ball mit dem darauf abgebildeten Kopf des Arbeitsministers mit Füßen tritt. Ein LFI-Regionalrat verteidigte den Slogan radikaler Gegnerinnen und Gegner der Rentenreform, die dem Präsidenten die Enthauptung an
„Ein steigender Anteil von Leuten legitimiert die Gewalt als Mittel, um die eigenen Forderungen durchzusetzen.“Luc Rouban Politologe
drohten.
Der führende Kopf von LFI, JeanLuc Mélenchon, verurteilte den Angriff auf Trogneux nicht eindeutig. Er spreche dem Ladenbesitzer sein Mitgefühl aus, schrieb Mélenchon auf Twitter. Er verlange vom Präsidenten aber dasselbe für seine „angegriffenen Freunde“. Während der Proteste gegen die Rentenreform
wurden zahlreiche Demonstrierende aus der linken Szene durch Auseinandersetzungen mit der teilweise exzessiv vorgehenden Polizei verletzt.
Eine Umfrage der Zeitung Figaro unter ihren Leserinnen und Lesern ergab, dass 84 Prozent über den Anstieg der politisch motivierten Gewalt besorgt sind. Das gilt auch für die Gewalttaten, die von Rechtsextremen
ausgehen – wie im Fall des Bürgermeisters der Kleinstadt Saint-Brevin. Yannick Morez hatte vergangene Woche seinen Rücktritt angekündigt, nachdem sein Haus angezündet worden war. Der Brand hängt vermutlich mit Protesten Rechtsextremer gegen eine Unterkunft für Geflüchtete in seiner westfranzösischen Gemeinde zusammen.
Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 2265 Angriffe und Beleidigungen gegen Gemeindevorsteher verzeichnet – ein Drittel mehr als noch ein Jahr zuvor. „Ein steigender Anteil von Leuten legitimiert die Gewalt als Mittel, um die eigenen Forderungen durchzusetzen“, sagte der Politologe Luc Rouban der Zeitung Le Monde.