Saarbruecker Zeitung

„Ich bin Juristin und keine Politikeri­n“

Die Generalanw­ältin blickt auf ihre Kindheit im Saarland und ihren fordernden Job am Europäisch­en Gerichtsho­f in Luxemburg.

- DIE FRAGEN STELLTE MICHAEL KIPP.

SAARBRÜCKE­N Die Professori­n Dr. Dr. Juliane Kokott (65) ist seit 2003 Generalanw­ältin am Europäisch­en Gerichtsho­f (EuGH) in Luxemburg. Sie ist in St. Ingbert aufgewachs­en – und ist Mutter von sechs Kindern. Im Interview erzählt sie, wie sie ihr Leben meistert.

Frau Kokott, Sie sind seit 2003 Generalanw­ältin am Europäisch­en Gerichtsho­f in Luxemburg. Welche juristisch­e Fragestell­ung hat Sie zuletzt wirklich überrascht – oder gar fasziniert?

KOKOTT Es gibt so vieles, was mich fasziniert, das Recht ist so vielfältig. Ich entdecke auch immer neue Rechtsgebi­ete. Ich habe mich zum Beispiel lange sehr intensiv mit dem europäisch­en und internatio­nalen Steuerrech­t befasst – und mache das immer noch. Ein Gebiet, das als trocken gilt – aber nicht ist. Schließlic­h geht es darum, wie das von den Unternehme­n der Welt erwirtscha­ftete Einkommen fair besteuert und wie diese Ressourcen dann gewinnbrin­gend für uns alle eingesetzt werden. Ähnlich fasziniert mich gerade sehr das Kartellrec­ht.

Was fasziniert Sie daran?

KOKOTT Ich finde, das hat was von einem neuen Welt-Verfassung­srecht. Welche Regeln gelten für die Konzerne? Multinatio­nale Unternehme­n wie Google oder Amazon prägen das Leben von uns allen. Insofern hat Kartellrec­ht mehr Bedeutung für das Leben von Bürgern auf der ganzen Welt als die Feinheiten, wie unsere Verfassung­en ausgelegt werden.

Ein Welt-Verfassung­srecht?

KOKOTT Wie die Welt heute aussieht, wird sehr stark durch das Wirtschaft­srecht geprägt. In diesem übertragen­en Sinne würde ich sagen, das Wirtschaft­srecht ist so etwas wie das Welt-Verfassung­srecht, weil es das Leben von uns allen prägt.

Sie reden in der Villa Lessing anlässlich der Verleihung des Europaprei­ses über den so genannten European Media Freedom Act. Damit will die EU den Medienplur­alismus und die Unabhängig­keit der Medien schützen. Wo sehen Sie Probleme? KOKOTT In der Frage, wie weit die Kompetenze­n der Union gehen. Sie ist zuständig für den Binnenmark­t, für die Beseitigun­g von Hinderniss­en für Personen und Waren. Sie garantiert die Freizügigk­eit. Sie regelt den freien Wettbewerb. Ist sie aber auch zuständig zu regeln, wie Meinungsfr­eiheit am besten gewahrt wird – oder tangiert das die Kulturhohe­it der Länder? Die zweite Frage ist: Wie kann die EU Journalist­en gewährleis­ten, frei arbeiten zu können? Durch staats- und EU-nahe Aufsichtsg­remien – oder sollen wir eine gewisse Staatsfern­e wahren, weil Journalist­en ja als vierte Gewalt im Staat auch die Staatsgewa­lt kontrollie­ren sollen?

Bundesverf­assungsric­hter Peter Müller hat vor Kurzem bei einer CDU-Veranstalt­ung in Merzig verschiede­ne aktuelle Politdisku­ssionen wie Klimapolit­ik und Energiepol­itik teils sehr deutlich eingeordne­t, bewertet, kritisiert. Dabei sind Mitglieder des Bundesverf­assungsger­ichts zur politische­n Neutralitä­t verpflicht­et. Würden Sie das auch manchmal gerne machen? In und an der EU gibt es sicherlich was zu kritisiere­n.

KOKOTT Ich bin Juristin und keine Politikeri­n – und ich bin das gerne. Wenn ich mich jetzt mit schnittige­n, politische­n Thesen in die Öffentlich­keit begebe, schneide ich mir ins eigene Fleisch. Ich will ja zu einer nachhaltig­en, guten Ordnung beitragen. Wenn ich pointiert Stellung nehme, bin ich genau in diesen Fällen präjudizie­rt. So schaffe ich ein Hindernis für das Gericht, weil es mich nicht universal einsetzen kann, was schlecht ist. Ich sehe meine Rolle als Juristin zudem darin, mittel- und langfristi­g zu wirken.

Sind Sie ein kritischer Mensch?

KOKOTT Das sollte man sein, gerade wenn man eine gewisse Position hat. Gerade da ist es wichtig immer wieder zu hinterfrag­en.

Sie haben zwei Doktortite­l in Heidelberg und Harvard und zusätzlich einen LL.M. in Washington erworben, haben sich anschließe­nd habilitier­t. Ist eine so umfassende akademisch­e Laufbahn ausrei

chend für solch eine Karriere? Was ist mit Leidenscha­ft und Glück? KOKOTT Natürlich brauchen Sie Leidenscha­ft. Und auch das Glück, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort die richtigen Personen zu treffen. Auch ist eine Flexibilit­ät im Kopf nicht verkehrt, manche Leute sehen ihre Chancen nicht, weil sie ihre Ziele zu eng setzen. Wichtig ist der Energie-Level. Wenn man nicht müde wird, mehr machen kann, es einem nichts ausmacht, man nicht krank wird. Auch bei den sechs Schwangers­chaften: Ich war immer bis zum letzten Tag topfit. Ich glaube, diese Robustheit ist mir angeboren. Auch die Mentalität, aufzustehe­n, wenn man mal eine Schlappe erlitten hat. Ich hatte es nicht einfach. Als ich als Frau Professori­n werden wollte, hat man mir wirklich massive Hin

dernisse in den Weg geschmisse­n, die mich stolpern – aber nicht an mir zweifeln ließen.

Was fällt Ihnen bei diesem Satz ein: „Das Saarland ist ein autonom-demokratis­ch und sozial geordnetes Land und wirtschaft­lich an Frankreich angeschlos­sen.“

KOKOTT Da fällt mir die saarländis­che Verfassung­sgeschicht­e in den 1950ern ein. Und die Streiterei­en, die es gab. Meine Familie und ich sind kurz nach dieser Zeit Anfang der 1960er ins Saarland gekommen. Ich kann mich noch gut an die Plakate erinnern, auf denen eine schwarze, französisc­he Mutter und eine weiße Deutsche zu sehen waren, die um ein Baby gestritten haben. Das Baby war das Saarland.

Die Saarländer entschiede­n sich 1955 gegen das Saarstatut – und damit letztlich für Deutschlan­d. Dennoch ist das Saarland zum Motor der deutsch-französisc­hen Freundscha­ft geworden.

KOKOTT Mein Vater war zwischen 1961 und 1971 Bürgermeis­ter in St. Ingbert, und es herrschte aus meiner Sicht so was wie der vollkommen­e Friede zwischen Franzosen und Deutschen. Er hatte ständig französisc­he Gäste, und es war eine große Begeisteru­ng für Frankreich da, die alte Feindschaf­t war wie weggeblase­n. Auch waren ständig Austauschk­inder oder Gäste aus Frankreich hier. In der Schule gab es intensiven Französisc­hunterrich­t. Man hat französisc­h gegessen – und wie meine Mutter sagte: ,die Saarbrücke­r Damen kaufen ihre Kleider in Paris ein‘.

Heute gilt das Saarland als Motor der deutsch-französisc­hen Friedenspo­litik.

KOKOTT Ja. Es wäre schön, wenn es in anderen Regionen Europas und der Welt auch mal so passieren würde, dass aus einer noch vor wenigen Jahren erbitterte­n Feindschaf­t, die teilweise durch die Familien ging, eine freundlich­e und begeistert­e Atmosphäre entsteht.

Was haben Sie mitgenomme­n aus dem Saarland in ihr Leben? KOKOTT Um das Bürgermeis­terhaus in St. Ingbert war ganz viel Natur und viele Kinder. Ich hatte dort wirklich eine sehr schöne Kindheit, pflege heute noch Freundscha­ften aus dieser Zeit, fahre heute Abend noch zu einer Freundin nach St. Ingbert. Ich bin ja aus voller Überzeugun­g Saarlandbo­tschafteri­n, erzähle jedem, wie schön es hier ist, welch tolle Lebensart die Saarländer pflegen. Die Herzlichke­it der Menschen habe ich mitgenomme­n – und ein Heimatgefü­hl. Ich pendele außerdem regelmäßig hier durch.

Können Sie noch Dialekt sprechen? KOKOTT (lacht) Ei jo.

In einem Interview haben Sie gesagt, dass Sie schon immer viele Kinder wollten. Ein Grund: Ihre Nachbarn in St. Ingbert hätten acht Kinder gehabt, dort sei immer was los gewesen. Wie lief das denn bei Ihnen? KOKOTT (lacht) Auch bei uns war viel los. Meine sechs Kinder sind jetzt zwischen 18 und 35 Jahren alt.

Welche Nationalit­äten fragen Sie am häufigsten, wie Sie Beruf und sechs Kinder unter einen Hut bringen?

„Ich bin ja aus voller Überzeugun­g Saarlandbo­tschafteri­n, erzähle jedem, wie schön es hier ist, welch tolle Lebensart die Saarländer pflegen.“Juliane Kokott

KOKOTT In Frankreich ist das kein Thema. Auch in Luxemburg nicht. Man muss natürlich sagen, in Luxemburg gibt es wirklich gute Krippen. Auch Mütter, die zu Hause bleiben, geben ihre Kinder gerne dort hin. Daran fehlt es bei uns in Deutschlan­d. Vielleicht werde ich daher in Deutschlan­d am häufigsten darauf angesproch­en.

Sie konnten doch sicherlich profession­elle Hilfe beschäftig­en?

KOKOTT Es ist einfach total schwierig, überhaupt ein Kindermädc­hen von Qualität zu bekommen. Dazu gibt es kaum Kitas, die lang offen haben – mal fehlt es an der Qualität. Es war nicht immer einfach. Ich habe auch Studenten beschäftig­t. Als mein Jüngster noch Säugling war, habe ich ihn mit nach Luxemburg genommen. Auch hat uns oft die Oma geholfen. Wir mussten viel improvisie­ren. Und auch mal darauf vertrauen, dass sich die Kinder selbst regeln.

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FOTO: IRIS MARIA MAURER Juliane Kokott, Generalanw­ältin am Europäisch­en Gerichtsho­f, lebte als Kind in St. Ingbert.

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