„Ich bin Juristin und keine Politikerin“
Die Generalanwältin blickt auf ihre Kindheit im Saarland und ihren fordernden Job am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg.
SAARBRÜCKEN Die Professorin Dr. Dr. Juliane Kokott (65) ist seit 2003 Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Sie ist in St. Ingbert aufgewachsen – und ist Mutter von sechs Kindern. Im Interview erzählt sie, wie sie ihr Leben meistert.
Frau Kokott, Sie sind seit 2003 Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Welche juristische Fragestellung hat Sie zuletzt wirklich überrascht – oder gar fasziniert?
KOKOTT Es gibt so vieles, was mich fasziniert, das Recht ist so vielfältig. Ich entdecke auch immer neue Rechtsgebiete. Ich habe mich zum Beispiel lange sehr intensiv mit dem europäischen und internationalen Steuerrecht befasst – und mache das immer noch. Ein Gebiet, das als trocken gilt – aber nicht ist. Schließlich geht es darum, wie das von den Unternehmen der Welt erwirtschaftete Einkommen fair besteuert und wie diese Ressourcen dann gewinnbringend für uns alle eingesetzt werden. Ähnlich fasziniert mich gerade sehr das Kartellrecht.
Was fasziniert Sie daran?
KOKOTT Ich finde, das hat was von einem neuen Welt-Verfassungsrecht. Welche Regeln gelten für die Konzerne? Multinationale Unternehmen wie Google oder Amazon prägen das Leben von uns allen. Insofern hat Kartellrecht mehr Bedeutung für das Leben von Bürgern auf der ganzen Welt als die Feinheiten, wie unsere Verfassungen ausgelegt werden.
Ein Welt-Verfassungsrecht?
KOKOTT Wie die Welt heute aussieht, wird sehr stark durch das Wirtschaftsrecht geprägt. In diesem übertragenen Sinne würde ich sagen, das Wirtschaftsrecht ist so etwas wie das Welt-Verfassungsrecht, weil es das Leben von uns allen prägt.
Sie reden in der Villa Lessing anlässlich der Verleihung des Europapreises über den so genannten European Media Freedom Act. Damit will die EU den Medienpluralismus und die Unabhängigkeit der Medien schützen. Wo sehen Sie Probleme? KOKOTT In der Frage, wie weit die Kompetenzen der Union gehen. Sie ist zuständig für den Binnenmarkt, für die Beseitigung von Hindernissen für Personen und Waren. Sie garantiert die Freizügigkeit. Sie regelt den freien Wettbewerb. Ist sie aber auch zuständig zu regeln, wie Meinungsfreiheit am besten gewahrt wird – oder tangiert das die Kulturhoheit der Länder? Die zweite Frage ist: Wie kann die EU Journalisten gewährleisten, frei arbeiten zu können? Durch staats- und EU-nahe Aufsichtsgremien – oder sollen wir eine gewisse Staatsferne wahren, weil Journalisten ja als vierte Gewalt im Staat auch die Staatsgewalt kontrollieren sollen?
Bundesverfassungsrichter Peter Müller hat vor Kurzem bei einer CDU-Veranstaltung in Merzig verschiedene aktuelle Politdiskussionen wie Klimapolitik und Energiepolitik teils sehr deutlich eingeordnet, bewertet, kritisiert. Dabei sind Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts zur politischen Neutralität verpflichtet. Würden Sie das auch manchmal gerne machen? In und an der EU gibt es sicherlich was zu kritisieren.
KOKOTT Ich bin Juristin und keine Politikerin – und ich bin das gerne. Wenn ich mich jetzt mit schnittigen, politischen Thesen in die Öffentlichkeit begebe, schneide ich mir ins eigene Fleisch. Ich will ja zu einer nachhaltigen, guten Ordnung beitragen. Wenn ich pointiert Stellung nehme, bin ich genau in diesen Fällen präjudiziert. So schaffe ich ein Hindernis für das Gericht, weil es mich nicht universal einsetzen kann, was schlecht ist. Ich sehe meine Rolle als Juristin zudem darin, mittel- und langfristig zu wirken.
Sind Sie ein kritischer Mensch?
KOKOTT Das sollte man sein, gerade wenn man eine gewisse Position hat. Gerade da ist es wichtig immer wieder zu hinterfragen.
Sie haben zwei Doktortitel in Heidelberg und Harvard und zusätzlich einen LL.M. in Washington erworben, haben sich anschließend habilitiert. Ist eine so umfassende akademische Laufbahn ausrei
chend für solch eine Karriere? Was ist mit Leidenschaft und Glück? KOKOTT Natürlich brauchen Sie Leidenschaft. Und auch das Glück, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort die richtigen Personen zu treffen. Auch ist eine Flexibilität im Kopf nicht verkehrt, manche Leute sehen ihre Chancen nicht, weil sie ihre Ziele zu eng setzen. Wichtig ist der Energie-Level. Wenn man nicht müde wird, mehr machen kann, es einem nichts ausmacht, man nicht krank wird. Auch bei den sechs Schwangerschaften: Ich war immer bis zum letzten Tag topfit. Ich glaube, diese Robustheit ist mir angeboren. Auch die Mentalität, aufzustehen, wenn man mal eine Schlappe erlitten hat. Ich hatte es nicht einfach. Als ich als Frau Professorin werden wollte, hat man mir wirklich massive Hin
dernisse in den Weg geschmissen, die mich stolpern – aber nicht an mir zweifeln ließen.
Was fällt Ihnen bei diesem Satz ein: „Das Saarland ist ein autonom-demokratisch und sozial geordnetes Land und wirtschaftlich an Frankreich angeschlossen.“
KOKOTT Da fällt mir die saarländische Verfassungsgeschichte in den 1950ern ein. Und die Streitereien, die es gab. Meine Familie und ich sind kurz nach dieser Zeit Anfang der 1960er ins Saarland gekommen. Ich kann mich noch gut an die Plakate erinnern, auf denen eine schwarze, französische Mutter und eine weiße Deutsche zu sehen waren, die um ein Baby gestritten haben. Das Baby war das Saarland.
Die Saarländer entschieden sich 1955 gegen das Saarstatut – und damit letztlich für Deutschland. Dennoch ist das Saarland zum Motor der deutsch-französischen Freundschaft geworden.
KOKOTT Mein Vater war zwischen 1961 und 1971 Bürgermeister in St. Ingbert, und es herrschte aus meiner Sicht so was wie der vollkommene Friede zwischen Franzosen und Deutschen. Er hatte ständig französische Gäste, und es war eine große Begeisterung für Frankreich da, die alte Feindschaft war wie weggeblasen. Auch waren ständig Austauschkinder oder Gäste aus Frankreich hier. In der Schule gab es intensiven Französischunterricht. Man hat französisch gegessen – und wie meine Mutter sagte: ,die Saarbrücker Damen kaufen ihre Kleider in Paris ein‘.
Heute gilt das Saarland als Motor der deutsch-französischen Friedenspolitik.
KOKOTT Ja. Es wäre schön, wenn es in anderen Regionen Europas und der Welt auch mal so passieren würde, dass aus einer noch vor wenigen Jahren erbitterten Feindschaft, die teilweise durch die Familien ging, eine freundliche und begeisterte Atmosphäre entsteht.
Was haben Sie mitgenommen aus dem Saarland in ihr Leben? KOKOTT Um das Bürgermeisterhaus in St. Ingbert war ganz viel Natur und viele Kinder. Ich hatte dort wirklich eine sehr schöne Kindheit, pflege heute noch Freundschaften aus dieser Zeit, fahre heute Abend noch zu einer Freundin nach St. Ingbert. Ich bin ja aus voller Überzeugung Saarlandbotschafterin, erzähle jedem, wie schön es hier ist, welch tolle Lebensart die Saarländer pflegen. Die Herzlichkeit der Menschen habe ich mitgenommen – und ein Heimatgefühl. Ich pendele außerdem regelmäßig hier durch.
Können Sie noch Dialekt sprechen? KOKOTT (lacht) Ei jo.
In einem Interview haben Sie gesagt, dass Sie schon immer viele Kinder wollten. Ein Grund: Ihre Nachbarn in St. Ingbert hätten acht Kinder gehabt, dort sei immer was los gewesen. Wie lief das denn bei Ihnen? KOKOTT (lacht) Auch bei uns war viel los. Meine sechs Kinder sind jetzt zwischen 18 und 35 Jahren alt.
Welche Nationalitäten fragen Sie am häufigsten, wie Sie Beruf und sechs Kinder unter einen Hut bringen?
„Ich bin ja aus voller Überzeugung Saarlandbotschafterin, erzähle jedem, wie schön es hier ist, welch tolle Lebensart die Saarländer pflegen.“Juliane Kokott
KOKOTT In Frankreich ist das kein Thema. Auch in Luxemburg nicht. Man muss natürlich sagen, in Luxemburg gibt es wirklich gute Krippen. Auch Mütter, die zu Hause bleiben, geben ihre Kinder gerne dort hin. Daran fehlt es bei uns in Deutschland. Vielleicht werde ich daher in Deutschland am häufigsten darauf angesprochen.
Sie konnten doch sicherlich professionelle Hilfe beschäftigen?
KOKOTT Es ist einfach total schwierig, überhaupt ein Kindermädchen von Qualität zu bekommen. Dazu gibt es kaum Kitas, die lang offen haben – mal fehlt es an der Qualität. Es war nicht immer einfach. Ich habe auch Studenten beschäftigt. Als mein Jüngster noch Säugling war, habe ich ihn mit nach Luxemburg genommen. Auch hat uns oft die Oma geholfen. Wir mussten viel improvisieren. Und auch mal darauf vertrauen, dass sich die Kinder selbst regeln.