Als der Millionen-Erbe im Kriegsbunker erfror
Im Oktober 1976 verschwindet Gernot Egolf, Millionärssohn und Neffe des damaligen KarlsbergBrauerei- Chefs. Schnell ist klar, Egolf wurde entführt. Doch in welchem Elend er sich befand, kommt viel zu spät ans Licht.
Dienstag, 19. Oktober 1976: Eigentlich ein ganz normaler Tag für Gernot Egolf. Zumindest zu Beginn. Egolf arbeitet als technischer Angestellter bei der Karlsberg-Brauerei in Homburg. Der 32-Jährige ist am Nachmittag noch auf der Arbeit, als er einen Anruf erhält. Daraufhin verlässt er seinen Arbeitsplatz und verschwindet. Egolf sagt niemandem, wohin er geht und mit wem er sich trifft. Es ist das letzte Mal, dass seine Familie, Kollegen und Freunde ihn sehen.
Einen Tag später ist für die Familie klar: Der 32-Jährige wurde entführt. Briefe und Anrufe deuten an, dass Gernot Egolf noch lebt. Zwei Männer mit saarländischem Dialekt melden sich bei seinen Eltern. Sie wissen, dass die Familie Egolf vermögend ist, dass er der Neffe des Karlsberg-Brauerei-Chefs ist. Sie fordern horrende Summen, wollen 500 000 bis zwei Millionen Deutsche Mark, drohen ein Ohr oder Finger Egolfs zu schicken. Die Familie schaltet die Polizei ein, aber auch einen Geistlichen, der vermitteln soll. Die Öffentlichkeit erfährt nichts – zumindest vorerst.
Der eingeschaltete Geistliche, auf dessen Hilfe Egolfs Familie setzt, ist Dekan Siegfried Wagner aus Homburg. Er telefoniert mehrfach mit den Entführern, will vermitteln. Die Täter können sich bei ihm melden, ohne dass die Strafverfolgungsbehörde eingeschaltet wird. Doch auch all das hilft nicht.
Erst fünf Wochen nach dem Verschwinden von Gernot Egolf machen Polizei und Staatsanwaltschaft den Entführungsfall publik. Viele Informationen dringen trotzdem nicht nach außen. Der Wissensstand ist spärlich. Dennoch hoffen die Beamten auf Hinweise. Wieso erst jetzt? Und ist es nicht zu spät? Diese Fragen werden nicht nur einmal gestellt. Etliche Zeitungsberichte beschäftigen sich in den 70er-Jahren damit. Was wäre passiert, wenn die Polizei früher an die Öffentlichkeit gegangen wäre? Unklar. Die Polizei verteidigt damals die späte Veröffentlichung und argumentiert mit den laufenden Ermittlungen und damit, Gernot Egolf nicht noch mehr in Gefahr zu bringen. Später wird eine Reihe an Ermittlungspannen bekannt werden.
Der entscheidende Hinweis bleibt aus. Die Familie Egolf setzt daher eine Belohnung aus. 50 000 Deutsche Mark verspricht sie für
Hinweise, die dazu führen, dass ihr Sohn Gernot endlich wieder gesund zurückkehrt. Und tatsächlich: Eine junge Frau meldet sich – eine 23-jährige Hausfrau aus Marburg an der Lahn. Ein Bekannter habe ihr die Beteiligung an der Entführung Egolfs gestanden. Ihr Hinweis führt die Ermittler zu zwei jungen Männern aus Homburg.
Am 8. Dezember 1976 stürmen Spezialkommandos der Polizei die Wohnungen von Andreas L. und Joachim M. im Ortsteil Erbach. Die beiden Männer sind praktisch Nachbarn, leben in derselben Straße. Bei den ersten Vernehmungen gestehen sie die Entführung des Millionärssohns. Sie sagen, Gernot Egolf sei tot, er soll in einem Bunker in der Nähe von Birkenfeld begraben worden sein. Für den Tod seien sie jedoch nicht verantwortlich.
Erst ein paar Tage später können die Beamten in den Bunker vordringen. Das Verlies liegt bei Eisen, in der Nähe von St. Wendel. Der Haupteingang ist verschüttet und auch ein Notausgang ist unzugänglich. Die Entführer haben ihn zum Einsturz gebracht. Es dauert ein paar Tage, bis die Polizisten vordringen können und Gernot Egolf finden – tot.
Der Bunker, in dem die Entführer Egolf gefangen hielten, gleicht einem Verlies. Stehen ist dort nicht möglich, der Raum ist gerade einmal 1,50 Meter hoch. Das Verlies ist nass, es steht teils zwischen 50 und 70 Zentimeter unter Wasser. An der Wand hängt eine daumendicke Kuhkette. Eine Kette, die wie der Name schon verrät, eigentlich für Rinder gedacht ist. Die Entführer ketteten den linken Fuß von Egolf an. Wäh
rend er dort Wochen lang im Bunker sitzt, kann er sich kaum bewegen. Das Verlies ist spärlich eingerichtet. Im Bunker liegen eine Matratze und eine Wolldecke. Das war’s.
Es ist unklar, wie lange Egolf tot ist. Er ist im Bunker erfroren. Während der Gefangenschaft verlor der Millionärssohn ganze 15 Kilogramm Körpergewicht. Bereits vier Tage nach der Entführung soll Gernot Egolf nichts mehr gegessen haben. Laut seinen Entführern veränderte er sich – nicht nur physisch, sondern auch psychisch.
Für Joachim M. und Andreas L. ist Gernot Egolf kein Unbekannter. Generell ist der Millionärssohn in Homburg bekannt. Er gilt in den 70er-Jahren als großzügig, lebenslustig, hilfsbereit, war immer gerne in geselliger Runde. Im Gegensatz zu den beiden Entführern ist Egolf vermögend. Der 21-jährige Joachim M. ist zum Tatzeitpunkt bereits jahrelang arbeitslos und hoch verschuldet. Er ist vorbestraft, hat Schulden. Im Juli 1975 verursachte er einen schweren Unfall, zwei Menschen sterben. Er braucht Geld, insgesamt 80 000 Euro soll er wegen des Unfalls zahlen. Und auch Andreas L. hat finanzielle Probleme.
In den Sommermonaten fassen sie in ihrer aussichtslosen Situation den Entschluss, jemanden zu entführen. Sie brauchen Geld. Ihre Wahl fällt auf Gernot Egolf. Joachim M. sucht den Bunker vorher aus, deponiert Matratze und Decke vor Ort. Dann entschließen sie sich, zuzuschlagen: Am 19. Oktober 1976 rufen sie Egolf auf der Arbeit an, geben sich als Freund aus, wollen sich mit ihm mitten in der Homburger
Innenstadt treffen. Gernot Egolf kommt. Die beiden Männer locken ihn ins Auto, versprechen ihm, mit ihm ein Bier trinken zu gehen. Doch es kommt anders. Die Entführer fesseln ihn, kleben ihm mit Klebeband den Mund zu, ziehen ihm einen Kopfkissenbezug übers Gesicht. Dann fahren sie mit ihrem Opfer zum Versteck – dem gesprengten Westwallbunker bei Eisen.
Bereits am 20. Oktober fordern die Entführer Lösegeld. Ein Teil des Geldes wird bereitgestellt, der Übergabeort angefahren, doch Andreas L. und Joachim M. zeigen sich nicht. Auch weitere Geldübergaben scheitern. Nach ihrer Festnahme erlässt die Staatsanwaltschaft Saarbrücken Haftbefehl wegen erpresserischen Menschenraubes. Auch die entscheidende Zeugin gerät ins Visier der Ermittler. Die 23-Jährige aus Hessen wird wegen Mittäterschaft festgenommen. Sie soll schon deutlich früher, und zwar bereits am 7. November, von der Entführung erfahren, sich aber viel zu spät zur Aussage überwunden haben. Im separaten Gerichtsverfahren wird sie 1979 freigesprochen. Das Gericht sah es als erwiesen an: Sie wollte Gernot Egolf noch helfen.
Im Frühjahr 1977 will die Staatsanwaltschaft Anklage gegen die beiden Täter erheben, nicht nur wegen der Entführung, auch wegen Mordes durch Unterlassung. Bevor es dazu kommt, begeht Andreas L. Selbstmord. Er hatte seit seiner Festnahme Selbstmordgedanken geäußert, wurde deshalb besonders überwacht. Als der Wachbeamte Ende Februar die Zelle abschließt, reißt sich Andreas L. los, rennt in den
Innenhof der Justizvollzugsanstalt Saarbrücken, klettert von außen an einem bis unter das Dach reichenden Gitter hoch und springt aus dem vierten Stock in den Tod. 20 Tage später wird Joachim M. angeklagt. Der Prozess lässt Monate auf sich warten.
Die Polizei und die Staatsanwaltschaft stehen wegen ihrer Ermittlungen und Informationsweitergabe immer wieder in der Kritik. Noch vor Beginn des Prozesses zeigt sich, dass die Ermittlungsbehörden anfangs davon ausgehen, dass Gernot Egolf freiwillig bei der Entführung mitgemacht hat. Auch ein Häftling soll sich mit heißen Tipps an die Behörden gewandt haben. Ein vorbestrafter Dieb und Erpresser schickte der Polizei einen Brief mit zehn bis zwölf möglich Verdächtigen – darunter auch der Name Andreas L.. Auch ein vermeintlicher Fahrkartenkauf nach Koblenz wurde lange als heiße Spur verfolgt. Bis heute ist unklar, wann Gernot Egolf starb, ob er von den Tätern mit Essen und Trinken versorgt, überhaupt besucht wurde
und ob eine frühere Fahndung ihm das Leben gerettet hätte.
Mehr als ein Jahr nach dem Tod Gernot Egolfs beginnt der Prozess gegen Joachim M. vor dem Landgericht Saarbrücken. Der Grund für die Verzögerung: eine „angespannte Personallage“, heißt es. Das Opfer Egolf sei schnell gewählt gewesen. „Der schmiss das Geld mit vollen Händen raus“, berichtet Joachim M.. Auch Aussagen des toten Andreas L. werden vor Gericht vorgelesen. Darin sagt er, dass Gernot Egolf nach der Geldübergabe sterben sollte. Joachim M. widerspricht. Er behauptet, das Opfer habe bei der Tat mitgemacht, sich im Verlies wohlgefühlt. Irgendwann wollte er seine Freundin in Hessen besuchen, als er zurückkehrte, war Gernot Egolf tot. „Ich erschrak. Gernot lag tot im Wasser und lächelte“, sagt M. vor Gericht. Das Gericht sieht seine Schuld als erwiesen an. M. muss lebenslang ins Gefängnis. Bis heute gilt der Fall Gernot Egolf als einer der sinnlosesten Entführungsfälle der deutschen Kriminalgeschichte.