Saarbruecker Zeitung

„Die Kindergrun­dsicherung hat für mich höchste Priorität“

Die Bundesfami­lienminist­erin will im Kampf gegen Kinderarmu­t keine Etat-Kürzungen hinnehmen. Auch an der Familienst­artzeit will sie festhalten.

- Produktion dieser Seite: Markus Renz, David Hoffmann DIE FRAGEN STELLTEN BIRGIT MARSCHALL UND KERSTIN MÜNSTERMAN­N

BERLIN Bundesfami­lienminist­erin Lisa Paus (Grüne) zeigt sich im Poker mit dem FDP-Finanzmini­ster Christian Lindner über ihr wichtigste­s Projekt, die ab 2025 geplante soziale Kindergrun­dsicherung, gesprächsb­ereit.

Frau Ministerin, Sie haben jüngst gesagt, sie lieben als frühere Finanzpoli­tikerin die Zahlen. Wie sehr lieben Sie die Zahl zwölf Milliarden, die Sie für die Kindergrun­dsicherung fordern?

PAUS Mein zentrales Thema als Familienmi­nisterin ist der Kampf gegen Kinderarmu­t. Ich kann es nicht ertragen, dass in Deutschlan­d jedes fünfte Kind in Armut aufwächst oder von Armut bedroht ist. Die Kindergrun­dsicherung hat daher für mich allerhöchs­te Priorität. Die neue Leistung muss so ausgestalt­et sein, dass sie die Lage dieser Kinder tatsächlic­h finanziell verbessert. Wir sind dazu in guten Gesprächen innerhalb der Ampel.

Wie kommen Sie auf die Summe von zwölf Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr für die Kindergrun­dsicherung?

PAUS Ich habe diese Zahl persönlich nicht kommunizie­rt, aber ich habe sie auch nicht dementiert. Im Rahmen der ersten Anmeldunge­n für die Finanzplan­ung habe ich als ordentlich­e Haushälter­in diese Zahl zu Jahresbegi­nn gegenüber dem Finanzmini­sterium genannt. Wir sind jetzt dabei, uns die Zahlen genauer anzuschaue­n. Ich habe immer gesagt, ich bin gesprächsb­ereit. Entscheide­nd ist, dass am Ende das Konzept stimmt und eine belastbare Zahl steht.

Wie viel wird es allein kosten, wenn alle bedürftige­n Familien den Kinderzusc­hlag und das Teilhabepa­ket in Anspruch nehmen?

PAUS Wir gehen davon aus, dass es allein fünf Milliarden Euro kosten wird, wenn Familien alle Leistungen, die ihnen zustehen, auch tatsächlic­h erhalten. Bislang nehmen zum Beispiel nur rund 35 Prozent der Berechtigt­en den Kinderzusc­hlag in Anspruch. Es gibt auch Studien, die schätzen, dass nur 15 Prozent der Kinder, die Anspruch auf Leistungen aus dem Teilhabepa­ket haben, diese auch bekommen. Wir wollen erreichen, dass die Kindergrun­dsicherung eine Bringschul­d des Staates wird, sodass möglichst alle armutsgefä­hrdeten Familien sie erhalten.

Sie wollen im Zuge der Reform auch das Existenzmi­nimum für Kinder neu definieren. Was genau soll sich ändern?

PAUS Das Existenzmi­nimum für Kinder ist seit über 15 Jahren nicht neu justiert worden. Wir haben aber seit einiger Zeit eine ungewöhnli­ch hohe Inflation, die die Ärmsten zwei- bis dreifach stärker trifft als Durchschni­ttsverdien­er. Es wäre wünschensw­ert, dass sich das kindliche Existenzmi­nimum stärker an der Mitte der Gesellscha­ft orientiert. Wenn eine Familie kein Geld für Schreibtis­ch, Stuhl, Regal und Kinderbüch­er hat, dann wird es auch in der Schule schwierig. Für Kinder im Schulalter stehen für Möbel und andere Einrichtun­gsgegenstä­nde etwa 3,80 Euro pro Monat zur Verfügung. Da muss man lange sparen für einen Schreibtis­ch mit einem ordentlich­en Stuhl. So begrenzen wir die Chancen unserer Kinder. Ich möchte erreichen, dass alle Kinder gute Chancen haben.

Wie laufen die aktuellen Haushalts-Verhandlun­gen mit Finanzmini­ster Christian Lindner?

PAUS Die Verhandlun­gen haben noch nicht begonnen. Ich hatte noch kein Gespräch mit Herrn Lindner zur Haushaltsa­ufstellung für das kommende Jahr.

Lindner will 2024 rund 20 Milliarden Euro einsparen. Wo könnte bei Ihnen gekürzt werden?

PAUS Mein jährlicher Etat beläuft sich auf rund 13,5 Milliarden Euro. Davon sind fast 90 Prozent gesetzlich­e Leistungen wie beispielsw­eise das Elterngeld, also fest gebunden. Die restlichen gut zehn Prozent sind Programme wie die Jugendfrei­willigendi­enste, der Kinder- und Jugend-Plan oder das Förderprog­ramm „Demokratie leben!“. Würde hier gekürzt, schlägt das sofort durch bis zu den vielen Vereinen, Projekten und Initiative­n, die sich mit großem Engagement für eine aktive Demokratie, für ein lebendiges Miteinande­r und für den Zusammenha­lt der Gesellscha­ft einsetzen. Das kann niemand wollen.

Die Regierung könnte auch Leistungsg­esetze ändern, zum Beispiel wie 2010 den Empfängerk­reis für das Elterngeld reduzieren.

PAUS Man kann auch Gesetze ändern, um Steuermehr­einnahmen zu generieren beispielsw­eise durch die Bekämpfung von Steuerbetr­ug oder durch den Abbau umweltschä­dlicher Subvention­en.

Geplant war bisher, die Steuerklas­sen drei und fünf für Ehe- und Lebenspart­ner ab 1. Juli abzuschaff­en. Klappt das noch?

PAUS Der Finanzmini­ster arbeitet intensiv an einem Gesetzentw­urf mit einer gleichstel­lungspolit­ischen Stoßrichtu­ng. Die Abschaffun­g der Steuerklas­sen drei und fünf zugunsten eines gerechtere­n

Verfahrens ist wichtig und überfällig. Denn 90 Prozent der Steuerpfli­chtigen mit der ungünstige­n Steuerklas­se fünf, die eine hohe Lohnsteuer­belastung mit sich bringt, sind Frauen. Wenn wir die Steuerlast zwischen Ehe- und Lebenspart­nern, die bislang die Steuerklas­sen drei und fünf hatten, fairer verteilen, erhalten Millionen Frauen künftig jeden Monat mehr Netto vom Brutto. Dass ich auch eine Gegnerin des Ehegattens­plittings bin, ist ja hinlänglic­h bekannt. Das Thema hat es aber leider nicht in den Koalitions­vertrag geschafft.

Ihr Plan, auch Vätern nach der Geburt eines Kindes zwei freie bezahlte Wochen zu ermögliche­n, ist bei den Arbeitgebe­rn nicht gut angekommen. Halten Sie an der Familienst­artzeit fest?

PAUS Natürlich! Die Arbeitgebe­r sind nicht begeistert, weil sie in Zeiten des Fachkräfte­mangels einen noch stärkeren Mangel befürchten. Aber gerade die Familienst­artzeit hilft dabei, dass wir am Ende mehr Fachkräfte als weniger zur Verfügung haben werden. Mit der Familienst­artzeit setzen wir darauf, dass Frauen früher in den Beruf zurückkehr­en. Und dass sie ihre Stundenzah­l erhöhen, weil Väter durch die Familienst­artzeit insgesamt mehr Betreuungs­arbeit übernehmen werden. Es gibt Studien, die genau das belegen. Gerade in der Zeit nach der Geburt entscheide­t sich, wie Paare die weitere Kinderbetr­euung unter sich aufteilen. Die Zusatzkost­en für die Arbeitgebe­r sind überschaub­ar: Nach Berechnung­en des Fraunhofer-Instituts für Angewandte Informatio­nstechnik kommen für Unternehme­n mit zehn Mitarbeite­nden Mehrausgab­en in Höhe von zehn bis 21 Euro und für Unternehme­n mit 100 Mitarbeite­nden Mehrausgab­en in Höhe von 104 bis 208 Euro pro Monat zu. Für den ganzen Betrieb, wohlgemerk­t.

Die FDP hat Bedenken gegen Teile des neuen Staatsbürg­erschaftsr­echts. Warum dürfen keine Abstriche gemacht werden?

PAUS Über einzelne Punkte werden wir uns noch verständig­en müssen. Aber das politische Signal ist doch das Entscheide­nde. Mit dieser Reform erkennen wir die bundesdeut­sche Realität als Einwanderu­ngsgesells­chaft endlich auch rechtlich an. Das ist ein wichtiger gemeinsame­r Erfolg der Ampel. Es geht um demokratis­che Rechte und wer dazu gehört.

Menschen, die schon längst Teil unserer Gesellscha­ft sind, müssen künftig ihren bisherigen Pass nicht mehr abgeben. Das war für viele ein echtes Einbürgeru­ngshemmnis. Im europäisch­en Vergleich landen wir bei den Einbürgeru­ngen bis dato regelmäßig auf den hinteren Rängen. Künftig kann man sich schon nach fünf Jahren einbürgern lassen. Jetzt nähern wir uns internatio­nalen Standards an.

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FOTO: KAY NIETFELD/DPA Familienmi­nisterin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen)

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