„Die Kindergrundsicherung hat für mich höchste Priorität“
Die Bundesfamilienministerin will im Kampf gegen Kinderarmut keine Etat-Kürzungen hinnehmen. Auch an der Familienstartzeit will sie festhalten.
BERLIN Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) zeigt sich im Poker mit dem FDP-Finanzminister Christian Lindner über ihr wichtigstes Projekt, die ab 2025 geplante soziale Kindergrundsicherung, gesprächsbereit.
Frau Ministerin, Sie haben jüngst gesagt, sie lieben als frühere Finanzpolitikerin die Zahlen. Wie sehr lieben Sie die Zahl zwölf Milliarden, die Sie für die Kindergrundsicherung fordern?
PAUS Mein zentrales Thema als Familienministerin ist der Kampf gegen Kinderarmut. Ich kann es nicht ertragen, dass in Deutschland jedes fünfte Kind in Armut aufwächst oder von Armut bedroht ist. Die Kindergrundsicherung hat daher für mich allerhöchste Priorität. Die neue Leistung muss so ausgestaltet sein, dass sie die Lage dieser Kinder tatsächlich finanziell verbessert. Wir sind dazu in guten Gesprächen innerhalb der Ampel.
Wie kommen Sie auf die Summe von zwölf Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr für die Kindergrundsicherung?
PAUS Ich habe diese Zahl persönlich nicht kommuniziert, aber ich habe sie auch nicht dementiert. Im Rahmen der ersten Anmeldungen für die Finanzplanung habe ich als ordentliche Haushälterin diese Zahl zu Jahresbeginn gegenüber dem Finanzministerium genannt. Wir sind jetzt dabei, uns die Zahlen genauer anzuschauen. Ich habe immer gesagt, ich bin gesprächsbereit. Entscheidend ist, dass am Ende das Konzept stimmt und eine belastbare Zahl steht.
Wie viel wird es allein kosten, wenn alle bedürftigen Familien den Kinderzuschlag und das Teilhabepaket in Anspruch nehmen?
PAUS Wir gehen davon aus, dass es allein fünf Milliarden Euro kosten wird, wenn Familien alle Leistungen, die ihnen zustehen, auch tatsächlich erhalten. Bislang nehmen zum Beispiel nur rund 35 Prozent der Berechtigten den Kinderzuschlag in Anspruch. Es gibt auch Studien, die schätzen, dass nur 15 Prozent der Kinder, die Anspruch auf Leistungen aus dem Teilhabepaket haben, diese auch bekommen. Wir wollen erreichen, dass die Kindergrundsicherung eine Bringschuld des Staates wird, sodass möglichst alle armutsgefährdeten Familien sie erhalten.
Sie wollen im Zuge der Reform auch das Existenzminimum für Kinder neu definieren. Was genau soll sich ändern?
PAUS Das Existenzminimum für Kinder ist seit über 15 Jahren nicht neu justiert worden. Wir haben aber seit einiger Zeit eine ungewöhnlich hohe Inflation, die die Ärmsten zwei- bis dreifach stärker trifft als Durchschnittsverdiener. Es wäre wünschenswert, dass sich das kindliche Existenzminimum stärker an der Mitte der Gesellschaft orientiert. Wenn eine Familie kein Geld für Schreibtisch, Stuhl, Regal und Kinderbücher hat, dann wird es auch in der Schule schwierig. Für Kinder im Schulalter stehen für Möbel und andere Einrichtungsgegenstände etwa 3,80 Euro pro Monat zur Verfügung. Da muss man lange sparen für einen Schreibtisch mit einem ordentlichen Stuhl. So begrenzen wir die Chancen unserer Kinder. Ich möchte erreichen, dass alle Kinder gute Chancen haben.
Wie laufen die aktuellen Haushalts-Verhandlungen mit Finanzminister Christian Lindner?
PAUS Die Verhandlungen haben noch nicht begonnen. Ich hatte noch kein Gespräch mit Herrn Lindner zur Haushaltsaufstellung für das kommende Jahr.
Lindner will 2024 rund 20 Milliarden Euro einsparen. Wo könnte bei Ihnen gekürzt werden?
PAUS Mein jährlicher Etat beläuft sich auf rund 13,5 Milliarden Euro. Davon sind fast 90 Prozent gesetzliche Leistungen wie beispielsweise das Elterngeld, also fest gebunden. Die restlichen gut zehn Prozent sind Programme wie die Jugendfreiwilligendienste, der Kinder- und Jugend-Plan oder das Förderprogramm „Demokratie leben!“. Würde hier gekürzt, schlägt das sofort durch bis zu den vielen Vereinen, Projekten und Initiativen, die sich mit großem Engagement für eine aktive Demokratie, für ein lebendiges Miteinander und für den Zusammenhalt der Gesellschaft einsetzen. Das kann niemand wollen.
Die Regierung könnte auch Leistungsgesetze ändern, zum Beispiel wie 2010 den Empfängerkreis für das Elterngeld reduzieren.
PAUS Man kann auch Gesetze ändern, um Steuermehreinnahmen zu generieren beispielsweise durch die Bekämpfung von Steuerbetrug oder durch den Abbau umweltschädlicher Subventionen.
Geplant war bisher, die Steuerklassen drei und fünf für Ehe- und Lebenspartner ab 1. Juli abzuschaffen. Klappt das noch?
PAUS Der Finanzminister arbeitet intensiv an einem Gesetzentwurf mit einer gleichstellungspolitischen Stoßrichtung. Die Abschaffung der Steuerklassen drei und fünf zugunsten eines gerechteren
Verfahrens ist wichtig und überfällig. Denn 90 Prozent der Steuerpflichtigen mit der ungünstigen Steuerklasse fünf, die eine hohe Lohnsteuerbelastung mit sich bringt, sind Frauen. Wenn wir die Steuerlast zwischen Ehe- und Lebenspartnern, die bislang die Steuerklassen drei und fünf hatten, fairer verteilen, erhalten Millionen Frauen künftig jeden Monat mehr Netto vom Brutto. Dass ich auch eine Gegnerin des Ehegattensplittings bin, ist ja hinlänglich bekannt. Das Thema hat es aber leider nicht in den Koalitionsvertrag geschafft.
Ihr Plan, auch Vätern nach der Geburt eines Kindes zwei freie bezahlte Wochen zu ermöglichen, ist bei den Arbeitgebern nicht gut angekommen. Halten Sie an der Familienstartzeit fest?
PAUS Natürlich! Die Arbeitgeber sind nicht begeistert, weil sie in Zeiten des Fachkräftemangels einen noch stärkeren Mangel befürchten. Aber gerade die Familienstartzeit hilft dabei, dass wir am Ende mehr Fachkräfte als weniger zur Verfügung haben werden. Mit der Familienstartzeit setzen wir darauf, dass Frauen früher in den Beruf zurückkehren. Und dass sie ihre Stundenzahl erhöhen, weil Väter durch die Familienstartzeit insgesamt mehr Betreuungsarbeit übernehmen werden. Es gibt Studien, die genau das belegen. Gerade in der Zeit nach der Geburt entscheidet sich, wie Paare die weitere Kinderbetreuung unter sich aufteilen. Die Zusatzkosten für die Arbeitgeber sind überschaubar: Nach Berechnungen des Fraunhofer-Instituts für Angewandte Informationstechnik kommen für Unternehmen mit zehn Mitarbeitenden Mehrausgaben in Höhe von zehn bis 21 Euro und für Unternehmen mit 100 Mitarbeitenden Mehrausgaben in Höhe von 104 bis 208 Euro pro Monat zu. Für den ganzen Betrieb, wohlgemerkt.
Die FDP hat Bedenken gegen Teile des neuen Staatsbürgerschaftsrechts. Warum dürfen keine Abstriche gemacht werden?
PAUS Über einzelne Punkte werden wir uns noch verständigen müssen. Aber das politische Signal ist doch das Entscheidende. Mit dieser Reform erkennen wir die bundesdeutsche Realität als Einwanderungsgesellschaft endlich auch rechtlich an. Das ist ein wichtiger gemeinsamer Erfolg der Ampel. Es geht um demokratische Rechte und wer dazu gehört.
Menschen, die schon längst Teil unserer Gesellschaft sind, müssen künftig ihren bisherigen Pass nicht mehr abgeben. Das war für viele ein echtes Einbürgerungshemmnis. Im europäischen Vergleich landen wir bei den Einbürgerungen bis dato regelmäßig auf den hinteren Rängen. Künftig kann man sich schon nach fünf Jahren einbürgern lassen. Jetzt nähern wir uns internationalen Standards an.