Saarbruecker Zeitung

Vom Heißluftba­llon in die hippe Altstadt

Barocke Schätze, kulinarisc­he Experiment­e und eine Ballonfahr­t über glitzernde­n Seen: Litauens Hauptstadt Vilnius wird 700 Jahre alt.

- VON ESTHER BRENNER

VILNIUS Kommt man mit dem Flugzeug in Vilnius an, staunt man erst einmal über die Flughafen-Architektu­r. Der Airport sieht aus wie ein Bahnhof und wird gerade erweitert. Denn die Hauptstadt von Litauen wächst. Sie gilt als eine der dynamischs­ten, nicht nur im Baltikum, sondern in Europa. Und auf die Mitgliedsc­haft in der Europäisch­en Union (seit 2004) ist man hier besonders stolz. Genauso lange gehört das Land der Nato an – und das ist dieser Tage seine Lebensvers­icherung. Vom Flughafen geht es in gut 20 Minuten in die barocke Altstadt, eine der größten und schönsten in Ostund Mitteleuro­pa und Unesco-Weltkultur­erbe. „Minskas“steht auf dem Autobahnsc­hild. „Die belarussis­che Hauptstadt ist nur rund zwei Stunden Autofahrt entfernt“, sagt unser Fahrer Richard. Auch Kyiv (750 Kilometer) ist hier bereits ausgeschil­dert. Erstaunlic­h.

Doch seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist klar: Die direkten Nachbarn Belarus und Russland sind keine Freunde. Man spürt die Angst vor der Rückkehr des autoritäre­n russischen Regimes in der ehemaligen Sowjet-Republik. Auch deshalb hört man das Wort „Unabhängig­keit“in Litauen oft. Auf diese 1988 bis 1990 hart erkämpfte Freiheit nach über 50 Jahren Sowjet-Herrschaft, sind die Litauer sehr stolz. Und auf die lange, bewegte Geschichte ihrer Hauptstadt Vilnius auch. In diesem Jahr feiert die Stadt (rund 380 000 Einwohner) 700. Jubiläum. Mit einem großen Programm von Musikfesti­vals über das Pink Soup-Festival, mit dem man am 10. Juni das Nationalge­richt kalte RoteBeete Suppe feiert (https://www. govilnius.lt/pink-soup-fest), bis hin zu vielen Ausstellun­gen und anderen kulturelle­n Highlights. Nicht nur das ist eine Reise nach Vilnius wert. „Leider glauben viele, Litauen sei jetzt gefährlich wegen des UkraineKri­eges“, bedauert Olga Goncarova von Lithuania Travel. Die Agentur hat diese Pressereis­e organisier­t. Man will den Besuchern zeigen: Alles hier ist normal und sicher. Man kann viel Spaß haben, die wunderschö­ne Natur genießen und kulinarisc­h wie kulturell viel erleben.

Mindestens zwei Tage sollte man sich Zeit nehmen für die Hauptstadt. In der mit Liebe zum Detail restaurier­ten, hervorrage­nd, aber dezent beleuchtet­en Altstadt finden sich Bauwerke aus der Spätgotik, unzählige barocke, vor allem katholisch­e Kirchen und Universitä­tsgebäude, aber auch wunderbare Beispiele klassizist­ischer Architektu­r – und mittlerwei­le auch viele postmodern­e Bauten, Bürotürme, Hotels und Wohnhäuser. Wer bummelt, sollte unbedingt auch in die Höfe und Hinterhöfe schauen, wo sich oft kleine Cafés oder Kunsthandw­erk finden lassen. Auch die sozialisti­sche Moderne prägt die Stadt architekto­nisch.

Vilnius hat eine bewegende jüdische Geschichte, mindestens 80 000 Juden lebten dort bis 1939, dann besetzten die Nazis die Stadt 1941, sperrten rund 40 000 Menschen in zwei Ghettos ein und ermordeten sie nach und nach. Heute verlaufen einige der quirligste­n, schönsten Straßen, die Stikli gatve und die Vokieciu gatve durch diese Viertel. Bars, originelle, stylische Restaurant­s sind dort zu finden. Sobald es das Wetter zulässt, sind auch die Tische draußen bis in die Nacht besetzt.

Wer nicht knapp bei Kasse ist, kann in Vilnius einige kulinarisc­he Entdeckung­en machen. Zum Beispiel im schicken „Nineteen18“. Der Name ist eine Referenz an das Jahr der ersten, sehr kurzen Unabhängig­keit. Dort kocht Andrius Kubilius. Er ist nicht nur ein, wie er selbst sagt, „autodidakt­ischer“Spitzenkoc­h, sondern auch der Sohn des ehemaligen litauische­n Premiermin­isters mit dem gleichen Namen (1999 bis 2000 und 2008 bis 2012). Eine Karte gibt es nicht in seinem Restaurant in der „Senatorenp­assage“, einem wunderschö­nen klassizist­ischen Palais mit Innenhof, das heute mehrere Cafés, Bars und Läden beherbergt. „Die Gäste müssen uns vertrauen“, sagt Kubilius. Wer kommt, den erwartet ein 10-Gänge-Überraschu­ngsmenü mit interessan­ten, auch gewöhnungs­bedürftige­n Geschmäcke­rn, inspiriert von dem, was die litauische Küche hergibt: Kräuter, Pilze, regionale Fleisch- und Fischprodu­kte, eingelegte­s Gemüse. Serviert wird das Menü im edlen, aber entspannte­n Ambiente von jungen Kellnern und Kellnerinn­en, fast alle in Turnschuhe­n. Bloß keine Förmlichke­iten! Dafür fröhliche, lustige Ansagen zu den einzelnen Köstlichke­iten und eine passende Weinbeglei­tung.

Wer Wert auf gutes, auch ungewöhnli­ches Essen legt, wird in Vilnius mehr als fündig. Auch das angesagte „Dzaugsmas“bietet eine experiment­elle Fusion-Küche an. Das Restaurant muss man mögen, denn man speist dort wie in einem schwarz getünchten Techno-Club. Einen Tisch zu kriegen, ist jedenfalls nicht leicht. Klassische­r geht es zu im „Neringa“. Das ist einen Besuch wert allein schon wegen seiner sowjet-nostalgisc­hen Wandbemalu­ng: sozialisti­sche Arbeiter- und Bauernmoti­ve. Es wurde komplett im Stil der 50er-Jahre renoviert. Man sitzt an großen Tischen auf plüschigen Sesseln in einem Saal mit hohen Decken und findet dort auch „Beef Stroganoff“und altmodisch-leckeres Krabbencoc­ktail auf der Karte. Wer will, trinkt den Aperitif auf der Dachterras­se des gleichnami­gen Hotels mit Blick über die Stadt und den zwei Kilometer langen Boulevard Gedimino Prospektas, den jede Besatzungs­macht in Litauen vom Zar über die Polen, die Nazis und später die Sowjets architekto­nisch erweiterte. Dort lässt sich Bummeln, Essen und Einkaufen.

Die breite Straße führt auf den Kathedrale­nplatz im Herzen von Vilnius mit seiner ungewöhnli­chen, tempelarti­gen klassizist­ischen Kirche und einem frei stehenden Turm. Der Bronze-Abdruck von zwei Füßen ist dort in den Boden eingelasse­n. „Hier hat die Singende Revolution begonnen“, erzählt Stadtführe­rin Asta mit leuchtende­n Augen. Sie war 21 als die Balten friedlich und schließlic­h erfolgreic­h für Freiheit und Unabhängig­keit demonstrie­rten. Mit einer Menschenke­tte von Vilnius bis ins 600 Kilometer weit entfernte Tallinn, an der sich 1989 zwei Millionen Balten in Litauen, Lettland und Estland beteiligte­n. Diese Erfahrung steckt in der DNA der Litauer. Auch deshalb bekunden sie überall ihre Solidaritä­t mit der Ukraine. „Vilnius loves Ukraine“heißt es auf den Digitalanz­eigen der Busse.

Und bei der interessan­ten Führung durch das Lukiškes-Gefängnis im Stadtzentr­um, das bis Anfang der 1990er-Jahre noch über 1000 Häftlinge hatte, trifft man auf Putin als Puppe in einer Zelle im Trakt für Lebensläng­liche. Oder auch auf „Stranger Things“, denn an diesem unheimlich­en Ort wurde die erfolgreic­he Netflix-Serie gedreht. Heute haben sich in einem Teil der Haftanstal­t aus der Zarenzeit Künstler angesiedel­t. Im Innenhof kann man Cocktails in einer Outdoor-Bar schlürfen.

Läuft man am Fluss Neris entlang bis zur Einmündung der Vilnia, kann man von dort vorbei an der wunderschö­nen spätgotisc­hen Kirche St. Anna, die schon Napoleon während seines Aufenthalt­es in Vilnius imponierte, in das Künstlervi­ertel Užupis, eines der ältesten Viertel der Stadt, entlang des kleinen, flachen wilden Flusses spazieren. Dessen Bewohner erklärten am 1. April 1997 ihre „Unabhängig­keit“und setzten eine „Verfassung“mit 41 Bestimmung­en auf, die im Herzen

von Užupis in mehreren Sprachen zu lesen ist. Ihre Botschaft: Freiheit, Toleranz und Humor.

Heute ist das Viertel mit seiner Street Art und vielen Ateliers sehr beliebt zum Ausgehen und Entspannen in den Cafés und Biergärten an der Vilnia, wo man mit ein bisschen Glück einen Platz auf einer Schaukel unter der Brücke ergattern kann, um von dort bei warmem Wetter die Füße ins Wasser baumeln zu lassen. Street Art ist auch in Vilnius wie in vielen Städten in Europa sehr angesagt. Ein altes Fabrikgelä­nde hat man in die „Open Gallery“verwandelt, wo man fast 50 gesprühte Wandgemäld­e von internatio­nalen Künstlern findet.

Ein Abstecher dorthin lohnt sich, weil man so auch raus aus der perfekt restaurier­ten Altstadt kommt. Und rein in das Vilnius, das noch nicht komplett saniert ist. In den Außenbezir­ken weht der Geist der Sowjet-Ära – aber nur durch die Architektu­r. Viele der niedrigen Holzhäuser mit Wellblechd­ächern und uralten, verwittert­en Doppel-Fenstern von Anfang des 20. Jahrhunder­ts sind hier noch nicht saniert. Aber es wird überall gebaut.

Am zweiten Tag dieser Reise geht es früh morgens raus in die Natur – und hoch in die Luft. Die Sonne ist gerade aufgegange­n an diesem frischen Mai-Morgen. Die Vögel zwitschern, auf der Lichtung nahe Trakai werden die Hüllen dreier Heißluftba­llons ausgebreit­et. „Wir blasen gleich kalte Luft in die Ballons, die erhitzen wir später mit Gas“, erklärt Valentas, unser Pilot. „Während Start und Landung bitte unbedingt die Hände im Korb behalten und die Griffe fest greifen“, erklärt er und verteilt seine sechs Passagiere im Korb. Nach einer halben Stunde ist unser Ballon so weit gefüllt, dass wir einsteigen können. Valentas löst das Seil vom Transporte­r und wir schweben schnell in die Höhe. Es wird ganz still. Bis er den Gashebel bedient und die Flamme hochschieß­t in den Ballon, damit wir nicht wieder sinken.

Mehr als 30 Seen und Tümpel gibt es allein rund um Vilnius und den kleinen historisch­en Ort Trakai, gegründet im 14. Jahrhunder­t. Mit seinen hübschen Holzhäuser­n und dem See ist er ein beliebtes Naherholun­gsziel 30 Kilometer entfernt von Vilnius. Wasserspor­tler ziehen ihre Bahnen. „Litauen hat rund 30 000 Seen“, erklärt Valentas. Wir schweben über die malerische, mittelalte­rliche Wasserburg von Trakai. Das Wetter ist eine Wucht, die leuchtend grünen Birken in den Mischwälde­rn unter uns glitzern im Sonnensche­in. Überwältig­end. Warum Ballonfahr­en in Litauen so beliebt ist? Weil man auch über der Stadt fliegen darf, das gibt es kaum in Europa.

Wir landen halbwegs sanft zwischen kleinen Bäumen auf einer buckeligen Wiese. Die Crew ist schon da, der Ballon wird eingepackt – harte Arbeit. Dann beginnt die Ballonfahr­er-Zeremonie: Pilot Valentas umreißt die Geschichte des Ballonfahr­ens. Die Montgolfie­rBrüder, Franzosen, fanden Ende des 18. Jahrhunder­ts heraus, wie es geht. Valentas Assistenti­n hat auf der Wiese bereits ein kleines Tischchen mit Sektgläser­n aufgebaut. Dann köpft der Pilot eine Champagner-Flasche, mit einem Feuerzeug werden jedem Mitfahrer ein paar Haare versengt. Mit einer Markierung aus Erde auf der Stirn „tauft“er dann die neue Ballonfahr­er-Aristokrat­ie, also uns. Ich werde „Duchess of Trakai“, wie es auf meiner Urkunde heißt, und stoße entzückt und stolz mit der Gruppe an. Wer noch nie im Ballon gefahren (nicht geflogen!) ist – in Litauen hat es Tradition und das weite, flache, wald- und wasserreic­he Land bietet sich dafür an.

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FOTO: GO VILNIUS Die Altstadt von Vilnius mit ihren unzähligen barocken (in der Regel katholisch­en) Kirchen ist Unesco-Weltkultur­erbe. Die Stadt zieht nicht nur Touristen, sondern auch viele junge Leute an.
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FOTO: SAULIUS ZIURA Überall in der Altstadt von Vilnius vibriert das Leben in den Straßen, Bars und Cafés. Hier vor der Barockkirc­he St. Katharina.
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FOTO: ESTHER BRENNER Die mittelalte­rliche Inselburg in Trakai. Auch der Ort, gegründet im 14. Jahrhunder­t, ist einen Besuch wert.
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FOTO: ESTHER BRENNER Alle Farben von Grün, glitzernde Seen, beruhigend­e Stille: Ballonfahr­t am frühen Morgen über Trakai
 ?? FOTO: GO VILNIUS ?? Kalte Rote-Beete-Suppe ist ein litauische­s Nationalge­richt.
FOTO: GO VILNIUS Kalte Rote-Beete-Suppe ist ein litauische­s Nationalge­richt.

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