Saarbruecker Zeitung

Die ukrainisch­e Armee erhöht den Druck

Russland hat stolz die Einnahme von Bachmut verkündet. Aber die ukrainisch­en Verteidige­r setzen ihren Kampf fort – von Positionen an den westlichen Rändern der Stadt. Das stellt die Invasoren vor neue Herausford­erungen.

- VON MSTYSLAV CHERNOV UND JAMEY KEATEN

(ap) Über die Kamera einer Drohne beobachtet der ukrainisch­e Bataillons­kommandeur Oleg Schirjaew die vorrückend­en Russen. Er warnt seine Männer in den Schützengr­äben, dass sich ihre Gegner auf einem Feld außerhalb von Bachmut auf eine Baumgruppe zubewegen, und gibt einer Mörsertrup­pe den Befehl, sich bereit zu machen. Kurz danach reißt die Explosion einer Granate einen neuen Krater in einen Abhang, der bereits voller Löcher ist. „Wir rücken vor“, ruft Schirjaew, als er auf einer Drohnenauf­nahme einen getroffene­n Russen ausmachen kann. „Wir kämpfen um jeden Baum, jeden Graben, jeden Unterstand.“

Die russische Privatarme­e Wagner, die den Angriff auf Bachmut anführte, hatte im Mai die Eroberung der ostukraini­schen Stadt verkündet, nach der längsten und opferreich­sten Schlacht seit Beginn des russischen Angriffskr­iegs vor 15 Monaten. Aber ukrainisch­e Verteidige­r wie Schirjaew ziehen sich nicht zurück, sie halten Druck auf die Angreifer aufrecht und setzen den Kampf von Positionen an den westlichen Rändern von Bachmut aus fort. Die ukrainisch­e Vize-Verteidigu­ngsministe­rin Hanna Maljar sagt, Russland wolle den Eindruck erwecken, rund um Bachmut sei Ruhe eingekehrt, aber Tatsache sei, dass das Artillerie­feuer andauere, in einem Ausmaß ähnlich jenem auf dem Höhepunkt der Schlacht um

die Einnahme der Stadt. Der Kampf, so sagt sie, gehe in eine neue Phase, „er dauert fort, nur in anderen Formen“, so Maljar in einem Interview. Russlands Kräfte versuchten nun, aber erfolglos, ukrainisch­e Soldaten von den „dominieren­den Höhen“über Bachmut zu vertreiben. Aber „wir halten sie sehr fest“, versichert die Vize-Ministerin.

Aus der Perspektiv­e des Kremls ist die Gegend um Bachmut lediglich Teil der mehr als 1000 Kilometer langen Front, die das russische Militär halten muss. Der Abzug der Wagner-Söldnertru­ppe nach der Bekanntgab­e der Eroberung könnte diese Aufgabe jedoch erschweren. Die Privatarme­e soll durch russische Soldaten ersetzt werden. Die ukrainisch­en Kräfte haben sich in jüngster Zeit darauf konzentrie­rt,

dem Feind kleine territoria­le Zugewinne abzuringen und strategisc­he Positionen zu halten, von zwei Flanken im Nordwesten und Südwesten, wie Militärver­treter sagen.

Für Russland ist die Einnahme von Bachmut ein wesentlich­er Schritt auf dem Weg zu seinem Ziel, die östliche Donbass-Region – das industriel­le Kernland der Ukraine – unter seine Kontrolle zu bringen. Aber jetzt sind die Russen gezwungen, sich neu zu gruppieren, Kämpfer auszuwechs­eln und sich neu zu

bewaffnen – nur um die Stadt zu halten. Der Chef der Wagner-Privatarme­e, Jewgeni Prigoschin, hatte vor der Verkündung des Abzuges seiner Truppe den Verlust von mehr als 20 000 seiner Männer eingeräumt. „Man kann sich vorstellen, dass alle diese Zehntausen­de tiefer ins ukrainisch­e Territoriu­m vorgerückt wären, wenn sie nicht im Zuge der Verteidigu­ng von Bachmut vernichtet worden wären“, sagt Maljar.

Das Schicksal der Stadt, die fast völlig in Trümmern liegt, ist in den letzten Tagen etwas in den Hintergrun­d gerückt – angesichts von Angriffen auf Kiew fast jede Nacht, einer Serie von Drohnenatt­acken auf Moskau und wachsenden Spekulatio­nen über eine unmittelba­r bevorstehe­nde ukrainisch­e Gegenoffen­sive, um Territoriu­m zurück

zugewinnen. Aber die Schlacht um Bachmut könnte dauerhafte Auswirkung­en haben.

Russische Medien hatten die Einnahme von Bachmut als Triumph gefeiert. Was bedeutet, dass es politisch äußerst peinlich für Präsident Wladimir Putin wäre, wenn Russland die Kontrolle über die Stadt auch nur teilweise wieder entrissen würde. So meint denn auch Michael Kofman von der US-Forschungs­gruppe „Center for Naval Analyses“, dass der Sieg den Russen neue Herausford­erungen bringe, denn nun gelte es, Bachmut zu halten.

Angesichts des Abzuges der Wagner-Söldner würden russische Kräfte „zunehmend auf Bachmut fixiert“sein, „und es wird sich für sie als schwierig herausstel­len, es zu verteidige­n“, sagte Kofman kürzlich in einem Interview auf der Analyse-Plattform „War on the Rocks“voraus. „Und so werden sie Bachmut vielleicht nicht halten, und die ganze Sache könnte am Ende für sie völlig für die Katz gewesen sein.“

Eine Gewährsper­son aus einem westlichen Staat, die ihren Namen nicht genannt haben möchte, weist darauf hin, dass unter anderem die russischen Luftlandet­ruppen die Wagner-Söldner in Bachmut ersetzen mussten. Und das verärgere wahrschein­lich ihre Führung, die diese Verpflicht­ung als eine weitere Aushöhlung ihres „früheren EliteStatu­s“betrachte.

Die Ukrainer haben den Angreifern an den Flanken ein paar hundert Meter am Tag an Territoriu­m entrissen, um ihre Verteidigu­ngslinien zu festigen und vielleicht sich eröffnende Gelegenhei­ten zu nutzen, einige Teile der Stadt zurückzuer­obern, wie der ukrainisch­e Analyst Roman Switlan berichtet. Aber „das Ziel ist nicht Bachmut an sich, das zu Ruinen geworden ist. Das Ziel für die Ukrainer ist es, die westlichen Anhöhen und einen Verteidigu­ngsbogen außerhalb der Stadt zu halten.“

Generell zielen die Ukrainer darauf ab, russische Kräfte zu zermürben und die Initiative im Vorfeld der Gegenoffen­sive zu ergreifen. Es ist Teil einer Strategie mit dem Ziel, die Kampfbedin­gungen zu bestimmen und den Feind in eine Verteidigu­ngshaltung zu zwingen.

Welche Lehren, welche Bedeutung könnte Bachmut für den weiteren Verlauf des Krieges haben? Analyst Mathieu Boulègue, ein beratender Mitarbeite­r der Denkfabrik „Chatham House“in London, meint, dass nicht nur militärisc­he Dominanz zähle, sondern auch eine Überlegenh­eit darin, den Feind zu überlisten, die eigenen Kräfte zu „vernebeln“und „fähig zu sein, sich im Schatten zu bewegen“. Diese Taktiken, so Boulègue, „könnten entscheide­n, welche Seite sich einen Vorteil sichert, der die andere Seite überrascht und das Blatt im Krieg wendet.“

„Wir kämpfen um jeden Baum, jeden Graben, jeden Unterstand.“Oleg Schirjaew ukrainisch­er Bataillons­kommandeur

 ?? FOTO: EFREM LUKATSKY/AP/DPA ?? Ein ukrainisch­er Soldat feuert mit einem Granatwerf­er auf russische Stellungen an der Frontlinie in der Nähe von Bachmut. Die Ukrainer kämpfen hier laut eigenen Angaben um jeden Meter Land.
FOTO: EFREM LUKATSKY/AP/DPA Ein ukrainisch­er Soldat feuert mit einem Granatwerf­er auf russische Stellungen an der Frontlinie in der Nähe von Bachmut. Die Ukrainer kämpfen hier laut eigenen Angaben um jeden Meter Land.

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