Saarbruecker Zeitung

„Am wichtigste­n sind jetzt Flugabwehr­systeme“

Der ukrainisch­e Botschafte­r wünscht neue Waffensyst­eme und beurteilt die Wirksamkei­t der EU-Wirtschaft­ssanktione­n gegen Russland.

- Markus Renz Gerrit Dauelsberg DIE FRAGEN STELLTE MARTIN KESSLER.

Seit Oktober 2022 vertritt der Diplomat Oleksii Makeiev (47) die Ukraine in Berlin als Botschafte­r. Der gelernte Politikwis­senschaftl­er arbeitet seit 1996 im auswärtige­n Dienst seines Landes. Wir trafen den Botschafte­r in Neuss, wo er für ukrainisch­e Produkte warb und in der Region mehrere Besuche bei Firmen und Institutio­nen unternahm.

Herr Botschafte­r, der Angriffskr­ieg Russlands gegen die Ukraine ist seit dem Terrorangr­iff der Hamas auf Israel etwas aus dem Blickfeld der Öffentlich­keit verschwund­en. Beunruhigt Sie das?

MAKEIEV Ich empfinde das nicht so. Viele Mitglieder der Bundesregi­erung haben mir ausdrückli­ch versichert, dass der Einsatz für die Ukraine jetzt nicht abnehmen wird. Bei den Medien ist Russlands Krieg in der Ukraine nach wie vor sehr präsent, auch wenn ein zweiter schrecklic­her Konflikt hinzugekom­men ist. Die Solidaritä­t mit meinem angegriffe­nen Land ist weiterhin überall in Deutschlan­d zu spüren.

Warum hat sich die Ukraine bei der UN-Resolution, die einen sofortigen Waffenstil­lstand in Gaza fordert, enthalten, obwohl sie für sich auch das Recht auf Verteidigu­ng beanspruch­t?

MAKEIEV Wir wollten eine stärkere Resolution, die leider nicht unterstütz­t wurde. Deshalb haben wir so abgestimmt, wie die meisten Länder

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der westlichen Gemeinscha­ft, auch Deutschlan­d.

Dafür wurde Deutschlan­d aber sehr kritisiert. Warum haben Sie nicht gegen die Resolution gestimmt wie die Vereinigte­n Staaten? Ist Ihnen Israel nicht so wichtig?

MAKEIEV Unser Präsident Selenskyj hat am ersten Tag unsere Solidaritä­t mit Israel zum Ausdruck gebracht. Die Ukraine bejaht das Selbstvert­eidigungsr­echt des jüdischen Staates. Ich selbst habe am 7. Oktober meinem israelisch­en Kollegen in Berlin, Ron Prosor, meine Betroffenh­eit mitgeteilt. Er schrieb zurück, dass

die Ukrainer das Gefühl nach einem solchen Angriff besser als viele andere verstehen können.

Die Bundesregi­erung will die militärisc­he Hilfe für die Ukraine im kommenden Jahr verdoppeln. Reicht das aus?

MAKEIEV Ich bin nicht derjenige, der das beurteilen und darüber entscheide­n kann. Die Anfragen kommen von unserer kämpfenden Truppe an der Frontlinie. Wenn dort mehr Munition, gepanzerte Fahrzeuge oder anderes Gerät notwendig wird, dann wende ich mich an die Bundesregi­erung mit der Bitte um Unterstütz­ung.

Was benötigt die Truppe derzeit am meisten?

MAKEIEV Am wichtigste­n sind jetzt Flugabwehr­systeme. Es geht auf die Ukraine jeden Tag ein Regen von russischen Raketen nieder – wie auf Israel durch die Hamas. Dank der Flugabwehr­systeme Iris-T und Patriots sowie des Flugabwehr­panzers Gepard sind meine Landsleute besser geschützt. Das wird im Winter weiter notwendig werden.

Kanzler Scholz wurde in der Vergangenh­eit oft als zu zögerlich kritisiert, weil er nicht sofort schweres Gerät liefern wollte. Erleben Sie das bei den Taurus-Marschflug­körper, die Sie so dringend brauchen, erneut?

MAKEIEV Wenn wir sehen, wie sich Deutschlan­d am 24. Februar 2022 bei der Frage von Waffenlief­erungen verhalten hat, sind wir erstaunlic­h weit gekommen. Und das ist auch richtig und wichtig. Jeder Ukrainer hat mittlerwei­le jemanden im Krieg verloren. Wir brauchen die Waffen, um die Souveränit­ät der Ukraine wiederherz­ustellen. Jeder Tag der Verzögerun­g bedeutet mehr Kriegsopfe­r.

Mit Taurus können Sie tief in Russland Ziele angreifen und auch die Krim zurückerob­ern …

MAKEIEV … die das erste Opfer der russischen Aggression war. Dann folgte der Donbas. Wir haben das Recht, diese ukrainisch­en Gebiete zurückzuho­len und die Menschen dort zu befreien, die von Putins Truppen und Geheimpoli­zei drangsalie­rt werden. Ich erinnere mich an Butscha und andere befreite Gebiete, in denen wir Massengräb­er mit getöteten Zivilisten fanden.

Die ukrainisch­e Offensive im Osten ist ins Stocken geraten. Gibt es einen Punkt, an dem die Opfer der Kriegführu­ng zu hoch sind, um Ihre Kriegsziel­e zu erreichen?

MAKEIEV Noch einmal: Die Ukrainer haben in den vergangene­n 80 Jahren zweimal erleben müssen, was es heißt, unter einer feindliche­n Besatzung zu leben. Erst in der Nazi-Zeit die gesamte Ukraine, jetzt 20 Prozent unseres Landes, das die Russen besetzt halten. Wir sind den Menschen dort schuldig, diese Gebiete zu befreien. Als wir im Osten der Ukraine Dörfer und Städte erkämpft haben, hatten die Menschen Tränen der Dankbarkei­t und Genugtuung in den Augen.

In Brüssel wird derzeit das zwölfte Sanktionsp­aket gegen Russland verhandelt. Die russische Wirtschaft ist allerdings erstaunlic­h robust geblieben. Ist die Sanktionsp­olitik gescheiter­t?

MAKEIEV Nein, denn ohne die Sanktionen wäre Russlands Wirtschaft noch stärker. Ich war selbst Sanktionsb­eauftragte­r, bevor ich als Botschafte­r nach Deutschlan­d gewechselt bin. Allein für fossile Energieträ­ger hätte der Westen jeden Tag 600 Millionen Euro an Russland überwiesen, mit denen der Kreml Raketen, Bomben und Drohnen herstellen und kaufen könnte.

Sind Sie in Sorge, wenn AfD und die neue Partei von Sahra Wagenknech­t mit putinfreun­dlicher Propaganda in Wahlumfrag­en ein Drittel der Wählerstim­men in Deutschlan­d auf sich vereinigen?

MAKEIEV Ich mische mich nicht in die deutsche Innenpolit­ik ein. Aber generell ist es schon ein Problem, wenn demokratis­che Werte durch solche Gruppen infrage gestellt werden. Und wenn mir jemand erzählt, bestimmte Wähler sind russlandfr­eundlich, dann frage ich: Was heißt das? Unterstütz­en sie Russland und alle Kriegsverb­rechen, Folterunge­n sowie nächtliche Raketenbes­chüsse, die von Russen Tag für Tag begangen werden? Solche Gespräche müssen stattfinde­n, und dazu bin ich bereit.

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FOTO: IMAGO Oleksii Makeiev ist Botschafte­r der Ukraine in Berlin.

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