Ein schwerer Rucksack voller Probleme
Das peinliche 0: 2 in Österreich zeigt auf, wie viel Arbeit Bundestrainer Nagelsmann noch bis zur Heim-EM hat.
(sid) Julian Nagelsmann reiste nach der bitterbösen Watschn von Wien als zerrissener Trainer nach Hause. In ein Land, das sieben Monate vor der EM keinen Pfifferling mehr gibt auf seine maßlos schlechte Mannschaft. Als die Stars nach einer kurzen Nacht die alte Kaiserstadt verließen, erschien die erträumte EM-Krönung eine Utopie. Der „traurige“Bundestrainer stellt plötzlich alte Gewissheiten infrage und zweifelt an seinem Turnierplan.
Die Häme der österreichischen Fans („Der DFB ist so im Oarsch!“) klang Nagelsmann noch in den Ohren, als er seine drei „Botschaften“für die EM-Rettung verkündete. Mehr Miteinander und „DrecksackMentalität“, weniger „absurde Ballverluste“und „raus aus der Opferrolle, das bringt nichts“.
Mit seinen Leitsätzen traf er den Nerv von Rudi Völler, der sich übellaunig durch den Bauch des Happel-Stadions grummelte. „Es wird uns nur gelingen, eine gute EM zu spielen und die Menschen wieder auf unsere Seite zu ziehen, wenn wir das machen, was die Türken und die Österreicher gemacht haben“, mahnte der DFB-Sportdirektor. Kratzen, beißen, kämpfen – Völler forderte „fünf bis zehn Prozent“mehr „an Leidenschaft, an Energie, an Dynamik“. Aber bitte bloß nicht wie bei Leroy Sané, dessen Frust sich in einer Tätlichkeit entlud.
Sollte es nicht gelingen, die von Völler, aber auch Anführern wie Mats Hummels zitierten „deutschen Tugenden“wieder zu zeigen, „wird es schwierig“, ahnte der Sportchef. Dann warf er eine Frage auf, die auch Nagelsmann quälte. Womöglich, sinnierte er, liege es „an den Spielertypen“. Der Bundestrainer sieht die Stärken seiner Mannschaft in der Spielkontrolle. Doch würzt sie diese nicht mit „klaren Bällen“und „stirbt in Schönheit“, ist all die offensive Klasse nichts wert.
Und so grübelt er jetzt über der Frage, ob diese Ansammlung von Hochbegabten einen zusätzlichen Mentalitätsspieler oder „Worker“braucht, wie Nagelsmann diesen Typus nannte – und er einen sei
ner „Zauberer“opfern muss. Denn seine Doppel-Sechs – egal, wer sie bildet – scheint eine zusätzliche Absicherung zu benötigen.
Ob er seinen Spektakel-Plan kippt und seinem EM-Rezept wirklich mehr Kampfkraft beimischt, will Nagelsmann nach dem schlechtesten Start eines Bundestrainers seit der Fehlbesetzung Erich Ribbeck vor 24 Jahren bis zum nächsten Länderspielfenster im März entscheiden. Dann soll diese dysfunktionale Elf in den angedachten Kracherspielen gegen die Niederlande und den Vize-Weltmeister Frankreich endlich „dafür sorgen, dass wir wieder ein gefürchteter Gegner sind“, wie Hummels forderte, „und nicht nur
eine gute Fußballmannschaft“. Schlechter jedenfalls, sagte Kapitän Ilkay Gündogan, „kann es gerade nicht sein“. Vorne wie hinten. Der Wert der „erwarteten Tore“lag in Österreich bei unterirdischen 0,23. 22 Gegentreffer in elf Spielen 2023 – einen schlechteren Schnitt wies eine DFB-Auswahl zuletzt 1956 auf.
Den Gedanken, dass seine Idee zu komplex sei und die Spieler überfordere, wiesen alle Befragten zurück. „Nein, definitiv nicht“, sagte Niclas Füllkrug. Gündogan formulierte das Hauptproblem so: „Wir sind keine Verteidigungs-Mannschaft.“Nicht in der letzten Reihe, nicht im Mittelfeld, nicht in der vordersten Pressinglinie. Um das aufzufangen,
müsse das Team „unsere absolute Stärke“besser reinbringen, forderte Füllkrug, nämlich die „Dynamik“in der Offensive. Also doch mit möglichst vielen Zauberern?
Findet Nagelsmann keine Lösung, droht die nächste Turnierblamage. Bei der EM-Auslosung am 2. Dezember könnte es eine „Todesgruppe“mit der Türkei/Österreich, den Niederlanden und Italien werden. Wobei: Diese DFB-Auswahl müsste selbst bei einer Konstellation mit Albanien, Slowenien und einem Qualifikanten zittern. Sechs Niederlagen wie 2023 gab es nur 2018 – im Jahr der ersten Horror-WM. Das Ziel Finale jedoch, sagte Füllkrug trotzig, habe sich „nicht verändert“.