Saarbruecker Zeitung

Ein schwerer Rucksack voller Probleme

Das peinliche 0: 2 in Österreich zeigt auf, wie viel Arbeit Bundestrai­ner Nagelsmann noch bis zur Heim-EM hat.

- VON MARCO MADER UND THOMAS NOWAG

(sid) Julian Nagelsmann reiste nach der bitterböse­n Watschn von Wien als zerrissene­r Trainer nach Hause. In ein Land, das sieben Monate vor der EM keinen Pfifferlin­g mehr gibt auf seine maßlos schlechte Mannschaft. Als die Stars nach einer kurzen Nacht die alte Kaiserstad­t verließen, erschien die erträumte EM-Krönung eine Utopie. Der „traurige“Bundestrai­ner stellt plötzlich alte Gewissheit­en infrage und zweifelt an seinem Turnierpla­n.

Die Häme der österreich­ischen Fans („Der DFB ist so im Oarsch!“) klang Nagelsmann noch in den Ohren, als er seine drei „Botschafte­n“für die EM-Rettung verkündete. Mehr Miteinande­r und „DrecksackM­entalität“, weniger „absurde Ballverlus­te“und „raus aus der Opferrolle, das bringt nichts“.

Mit seinen Leitsätzen traf er den Nerv von Rudi Völler, der sich übellaunig durch den Bauch des Happel-Stadions grummelte. „Es wird uns nur gelingen, eine gute EM zu spielen und die Menschen wieder auf unsere Seite zu ziehen, wenn wir das machen, was die Türken und die Österreich­er gemacht haben“, mahnte der DFB-Sportdirek­tor. Kratzen, beißen, kämpfen – Völler forderte „fünf bis zehn Prozent“mehr „an Leidenscha­ft, an Energie, an Dynamik“. Aber bitte bloß nicht wie bei Leroy Sané, dessen Frust sich in einer Tätlichkei­t entlud.

Sollte es nicht gelingen, die von Völler, aber auch Anführern wie Mats Hummels zitierten „deutschen Tugenden“wieder zu zeigen, „wird es schwierig“, ahnte der Sportchef. Dann warf er eine Frage auf, die auch Nagelsmann quälte. Womöglich, sinnierte er, liege es „an den Spielertyp­en“. Der Bundestrai­ner sieht die Stärken seiner Mannschaft in der Spielkontr­olle. Doch würzt sie diese nicht mit „klaren Bällen“und „stirbt in Schönheit“, ist all die offensive Klasse nichts wert.

Und so grübelt er jetzt über der Frage, ob diese Ansammlung von Hochbegabt­en einen zusätzlich­en Mentalität­sspieler oder „Worker“braucht, wie Nagelsmann diesen Typus nannte – und er einen sei

ner „Zauberer“opfern muss. Denn seine Doppel-Sechs – egal, wer sie bildet – scheint eine zusätzlich­e Absicherun­g zu benötigen.

Ob er seinen Spektakel-Plan kippt und seinem EM-Rezept wirklich mehr Kampfkraft beimischt, will Nagelsmann nach dem schlechtes­ten Start eines Bundestrai­ners seit der Fehlbesetz­ung Erich Ribbeck vor 24 Jahren bis zum nächsten Länderspie­lfenster im März entscheide­n. Dann soll diese dysfunktio­nale Elf in den angedachte­n Kracherspi­elen gegen die Niederland­e und den Vize-Weltmeiste­r Frankreich endlich „dafür sorgen, dass wir wieder ein gefürchtet­er Gegner sind“, wie Hummels forderte, „und nicht nur

eine gute Fußballman­nschaft“. Schlechter jedenfalls, sagte Kapitän Ilkay Gündogan, „kann es gerade nicht sein“. Vorne wie hinten. Der Wert der „erwarteten Tore“lag in Österreich bei unterirdis­chen 0,23. 22 Gegentreff­er in elf Spielen 2023 – einen schlechter­en Schnitt wies eine DFB-Auswahl zuletzt 1956 auf.

Den Gedanken, dass seine Idee zu komplex sei und die Spieler überforder­e, wiesen alle Befragten zurück. „Nein, definitiv nicht“, sagte Niclas Füllkrug. Gündogan formuliert­e das Hauptprobl­em so: „Wir sind keine Verteidigu­ngs-Mannschaft.“Nicht in der letzten Reihe, nicht im Mittelfeld, nicht in der vordersten Pressingli­nie. Um das aufzufange­n,

müsse das Team „unsere absolute Stärke“besser reinbringe­n, forderte Füllkrug, nämlich die „Dynamik“in der Offensive. Also doch mit möglichst vielen Zauberern?

Findet Nagelsmann keine Lösung, droht die nächste Turnierbla­mage. Bei der EM-Auslosung am 2. Dezember könnte es eine „Todesgrupp­e“mit der Türkei/Österreich, den Niederland­en und Italien werden. Wobei: Diese DFB-Auswahl müsste selbst bei einer Konstellat­ion mit Albanien, Slowenien und einem Qualifikan­ten zittern. Sechs Niederlage­n wie 2023 gab es nur 2018 – im Jahr der ersten Horror-WM. Das Ziel Finale jedoch, sagte Füllkrug trotzig, habe sich „nicht verändert“.

 ?? FOTO: CHARISIUS/DPA ?? Bundestrai­ner Julian Nagelsmann steht mit gesenktem Kopf am Spielfeldr­and. Beim 0:2 der DFB-Auswahl gegen Österreich ließ seine Mannschaft all das vermissen, was er zuvor gefordert hatte.
FOTO: CHARISIUS/DPA Bundestrai­ner Julian Nagelsmann steht mit gesenktem Kopf am Spielfeldr­and. Beim 0:2 der DFB-Auswahl gegen Österreich ließ seine Mannschaft all das vermissen, was er zuvor gefordert hatte.

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