„Die Shoah begann nicht mit Auschwitz“
Bei der Gedenkstunde des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus haben Holocaust-Überlebende und Nachfahren zu mehr Menschlichkeit aufgerufen.
Marcel Reif sagt drei Worte. Drei Worte, die sein Vater ihm manchmal sagte. Drei Worte als eindringlicher Appell, gerade heute. „Sei ein Mensch.“Diesen Satz wiederholt Reif. Er hallt im Plenarsaal des Bundestages nach. Er geht unter die Haut, rührt viele Anwesende zu Tränen.
Die Gedenkstunde im Parlament für die Opfer des Nationalsozialismus wird 79 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz auch zu einer Gedenkstunde für die Verantwortung der jüngeren Generationen. Der Generationen der Kinder, Enkel und Urenkel von Opfern und Tätern aus der Schreckenszeit der Nazis.
Eva Szepesi kam als junges Mädchen nach Auschwitz. Sie überlebte den Horror im Vernichtungslager nur knapp. Die 91-Jährige schildert in einer bewegenden Rede im Bundestag, wie ihre Mutter sie als Elfjährige auf die Flucht schickt. Wie die Nazis sie irgendwann aufspüren, in einem Viehwaggon deportieren. Aber vor allem auch, wie es alles begann. „Die Shoah begann nicht mit Auschwitz“, betont Szepesi im Bundestag, „sie begann mit Worten, sie begann mit Schweigen und Wegschauen der Gesellschaft“. Sie wünsche sich, dass „nicht nur an Gedenktagen an die ermordeten Juden erinnert wird, sondern auch im Alltag an die lebenden. Sie brauchen jetzt Schutz.“
Szepesi hält der deutschen Gesellschaft den Spiegel vor, indem sie sagt, dass jüdische Kinder und Jugendliche heute Angst davor haben, in die Schule zu gehen, „nur weil sie Juden sind“. Szepesi, deren Eltern und jüngerer Bruder von den Nazis getötet wurden, sagt: „Es schmerzt mich, wenn meine Urenkel von Polizisten mit Maschinengewehren beschützt werden müssen, nur weil sie Juden sind.“
Über der Gedenkstunde in diesem Jahr hängen die Schatten der barbarischen Terrorattacken der Hamas vom 7. Oktober in Israel. Der Tag, an dem Babys, Kinder, ihre Eltern,
Großeltern bestialisch ermordet und verschleppt wurden, an dem Menschen bei einem Friedensfest vergewaltigt und erschossen wurden, hat die Welt erschüttert, nicht nur Jüdinnen und Juden. Zugleich gibt es einen starken Anstieg antisemitischer Straftaten. Szepesi ruft zu mehr Menschlichkeit auf: „Es war nie wichtiger als jetzt. Denn ‚Nie wieder` ist jetzt“, sagt sie. Szepesi
würdigt die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus, gegen die AfD. Und ruft die Menschen dazu auf, auch im Alltag, am Arbeitsplatz gegen Antisemitismus aufzustehen, zu widersprechen, Haltung zu zeigen. „Glauben Sie mir, es fällt mir nicht leicht, mit 91 Jahren hier zu stehen. Aber wenn ich nur ein paar Menschen mit meinen Worten erreiche, hat es sich schon gelohnt“, sagt Szepesi. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) nennt in ihrer Rede Zahlen zur Gewalt gegen Juden, verweist darauf, dass seit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober in Deutschland über 2000 antisemitische Straftaten begangen worden seien. „Dieser Ausbruch des Antisemitismus ist eine Schande für unser Land.“Sie betont: „Judenhass ist kein Problem nur der Vergangenheit. Antisemitismus ist ein Problem der Gegenwart“, sagt Bas. Deutschland dürfe und werde dazu nicht schweigen. „Wir stehen solidarisch an der Seite der Jüdinnen und Juden. Und wir erheben unsere Stimme gegen jede Form von Judenhass“, sagt Bas.
Anlass der Gedenkstunde war der internationale Holocaust-Gedenktag. Er erinnert an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee der Sowjetunion am 27. Januar 1945. An der Gedenkstunde nahmen auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Verfassungsgerichtspräsident Stephan Harbarth und Bundesratspräsidentin Manuela Schwesig (SPD) teil.
Sportjournalist Marcel Reif war als Redner zu dieser Gedenkfeier im Bundestag eingeladen, weil sein Vater als polnischer Jude während des Krieges nur knapp der Verschleppung ins KZ durch die Nationalsozialisten entkommen konnte. Reif schildert, dass sein Vater sich dazu entschlossen hatte, nicht über das Erlebte zu sprechen. „Wir sollten, wir durften nicht in jedem Postboten, Bäcker, Straßenbahnfahrer einen möglichen Mörder unserer Großeltern vermuten“, sagt Reif, dessen Großeltern und andere Verwandte von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Diesen „warmen, kuscheligen Mantel des Schweigens“habe er angenommen, später aber verstanden, dass sein Vater doch gesprochen und ein Vermächtnis in diesem Satz hinterlassen habe: „Sei ein Mensch.“