Der blutige Kampf der Drogenkartelle in Brüssel
Eine Serie von Schießereien schreckt die Anwohner in Brüssel auf. Die Gewalt in der Organisierten Drogenkriminalität ist von Antwerpen in die Hauptstadt geschwappt.
Es gibt nicht wenige Wege in der Brüsseler Innenstadt, da fragt sich der Passant nach dem Durchqueren gewaltiger Wolken, ob er immer noch behaupten kann, nie gekifft zu haben. Für den Besitz von Cannabis in geringen Mengen werden Erwachsene seit zwei Jahrzehnten schon nicht mehr bestraft. Trotz steigender Inhaltsstoffe und zunehmender gesundheitlicher Folgen ist die Droge inzwischen omnipräsent. Gespannt blickt die belgische Politik auf Deutschland. Gelingt es dort, durch kontrollierten Verkauf an volljährige Clubmitglieder den illegalen Handel in den Griff zu bekommen? Doch das Bild auf Brüssels Straßen spricht nicht dafür, dass die vielen munter paffenden jungen Leute eine Clubmitgliedschaft erwerben würden, wenn sie es denn überhaupt dürften. Denn volljährig sind die meisten augenscheinlich nicht.
Der unverwechselbare Krautgeruch prägt viele Plätze, Straßencafés und Sitzplätze vor Kneipen in der 1,2-Millionen-Einwohner-Stadt.
Diesen Februar kommt in mehreren Quartieren ein weiteres Phänomen hinzu. Wenn es Nacht wird, beginnen die Schießereien.
Mal wird aus einem Sturmgewehr in die Luft geballert, mal einem Mann an einer Bushaltestelle aus einem vorbeifahrenden Auto heraus ins Bein gefeuert, mal liegen zwei Menschen danach schwer verletzt auf dem Boden, mal sieht man auch die Mordkommission bei der Spurensammlung auf einem der Plätze, wo eine neue Welle von Revierkämpfen unter Dealern die öffentliche Ordnung wegzuspülen droht. Sieben Mal binnen zwei Wochen nahmen die Banden ihre Gegner unter Beschuss. Die Schauplätze wechseln, die Entwicklung stet: Es wird immer brutaler.
Dabei können die Behörden durchaus Erfolge vorweisen. Gerade wird spektakulär gleich 125 mutmaßlichen Drogenkriminellen in Brüssel gleichzeitig der Prozess gemacht, vor wenigen Tagen führte eine Razzia gegen Cannabis-Dealer zur Festnahme von fast zwei Dutzend Beteiligten, darunter Polizisten.
Die einkassierten Drogen zeugen nicht nur bei Kokain von einem lukrativen Markt: Auch Cannabis wird gelegentlich in solchen Mengen requiriert, dass diese Straßengeschäften im dreistelliger Millionenhöhe entsprechen. Die Probleme des Landes wachsen, seit die Kokain-Sicherstellungen in Rotterdam zurückgegangen und die in Antwerpen hochgeschnellt sind. Die zuletzt 120
Tonnen Kokain sind nur ein Bruchteil des tatsächlichen Handels. Aber für die Ermittler ergibt sich das Bild einer Realität, die die finsterste Filmfiktion übertrifft.
Da gibt es regelrechte Folterkammern, in denen Beteiligte zu Tode bestraft oder gefügig gemacht werden. Da gibt es den Einsatz von Künstlicher Intelligenz, um Hafenarbeiter und Sicherheitskräfte komplett zu scannen, um diejenigen herauszufinden, die durch Drohungen gegen Angehörige oder wegen ihrer finanziellen Situation zur „Kooperation“gewonnen werden können. Da holen Minderjährige in großer Anzahl rucksackweise die in den Containern versteckten Drogen. Und da gibt es sogar die dreiste Wiederentwendung seit Wochen sichergestellter Drogen, weil der belgischen Polizei Verbrennungsöfen in ausreichender Kapazität fehlen und das Zeug nur schwach bewacht gelagert wird.
Der zunehmende Drogendruck auf Belgien und die von hier aus organisierte Lieferung in das übrige Europa steht auch in einem Zusammenhang mit veränderten Warenströmen in Amerika. Seitdem die USA von der mörderischen Kunstdroge Fentanyl überschwemmt werden, suchen sich mehr Kartelle Europa als Absatzmarkt aus und liefern sich mit den angestammten Großdealern und den Behörden rücksichtslose Kämpfe. Bereits im vergangenen Jahr ließen die vereitelte Entführung des belgischen Justizministers und die tödlichen Schüsse auf die elfjährige
Nichte eines Drogenhändlers die Öffentlichkeit aufschrecken.
Den Druck merken vermehrt auch andere Länder. So hat die EU eine Haffenallianz ins Leben gerufen, damit Behörden, Reedereien und Schifffahrtsverbände schneller Informationen austauschen und voneinander lernen können. Für die Organisierte Kriminalität gibt es nur Europa als Ziel, national unterschiedliche Zuständigkeiten interessiert sie nicht. Ihr Respekt vor den Sicherheitsbehörden schwindet in Belgien mehr und mehr.
„Die Dealer fühlen sich offenbar unantastbar“, berichtet Jean Spinette, Bürgermeister des Brüsseler Bezirks Saint-Gilles, dem Schauplatz der jüngsten tödlich geendeten Schießerei. Die Schüsse fielen, obwohl die Polizei nach den Vorfällen in den Nächten zuvor verstärkt patrouillierte. Derzeit müsste sie, so Spinette, jedoch an 87 Punkten Brüssels gleichzeitig präsent sein, und das könne sie einfach nicht.