Ist Erinnern Wahrscheinlichkeitssache?
Der junge Saarbrücker Computerlinguistik-Professor Michael Hahn hat ein Modell mit entwickelt, mit dem sich Wahrnehmungsverzerrungen und Gedächtnislücken nicht nur besser verstehen, sondern auch verlässlich vorhersagen lassen. Hahn glaubt, dass die Erkenn
Wie verlässlich sind unsere Wahrnehmungen und Erinnerungen? Sie sind trügerisch und relativ, wie etwa die „Delboeuf-Täuschung“zeigt: Sehen wir zwei gleich große schwarze Kreise, von denen der eine von einem zweiten, größeren Kreis umgeben ist als der andere, empfinden wir ihn aufgrund der Umgebungsgröße als kleiner. Oder: Leicht geneigte Stangen nehmen wir oft abgeschrägter wahr. Wider Willen verfälschen wir auch unser Leben. Etwa, indem wir Dinge behaupten, die so nie stattfanden. Suggestionen können solche Erinnerungsfehler begünstigen: Als „Lost in the Mall“wurde ein Experiment bekannt, bei dem ein Teil der Probanden – nachdem ihnen fälschlicherweise vermittelt wurde, sie seien als Kleinkind in einem Einkaufszentrum verlorengegangen und später von Unbekannten heimgebracht worden – später eine lebhafte Erinnerung an etwas tatsächlich nie Erlebtes ausprägte.
Mit dem in Austin ( Texas) forschenden Neurowissenschaftler Xue-Xin Wei hat der Saarbrücker Computerlinguist Michael Hahn, der an der Universität des Saarlandes seit Oktober 2022 eine Tenure Track-Professur hat, nun ein mathematisches Modell entwickelt, anhand dessen sich Wahrnehmungsverzerrungen von Individuen verlässlich vorhersagen lassen. Das Interessante daran ist die Grundidee dahinter, die Wei und Hahn bei ihrer Neuauswertung zahlreicher bekannter Experimente bestätigt fanden. Seien es Verständnisprobleme, Wahrnehmungsverzerrungen oder Erinnerungsfehler: Immer füllt unser Gehirn die Lücken auf Basis von Intuition, vorherigen Erwartungen und Häufigkeits- und Wahrscheinlichkeitsüberlegungen auf. Salopp gesagt, machen wir uns die Welt um uns herum wieder konsistent. „Unser Gehirn macht Fehler, wenn unsere Ressourcen beschränkt sind“, erklärt Hahn. Das macht aber nicht unbedingt etwas. Denn im täglichen Leben lösen wir es dadurch, dass wir die Lücken mit
vorhandenem Wissen schließen. Wei und Hahn griffen für ihre soeben im Fachjournal „Nature Neuroscience“erschienene Studie auf zahlreiche experimentelle Datensätze zurück und fanden ihren Ansatz in allen Fällen bestätigt. Entsprechend folgern die Autoren in ihrem Paper: „Unsere Theorie erklärt die Verzerrungen bei der Wahrnehmung einer Vielzahl von Stimulusattributen, einschließlich Orientierung, Farbe und Größe.“Ob Farbwahrnehmungen, Winkelschätzungen oder das Memorieren von Zahlen: In allen, physikalisch exakt messbaren Fällen wiesen sie dieselben Fehlerkomponenten nach, die zwar zu absehbaren Unschärfen in Wahrnehmung und Gedächtnis führen, die Lücken jedoch weitgehend sinnvoll füllen. „Sich fehlerhaft zu erinnern, ist insoweit das Beste, was das Gehirn leisten kann“, meint Michael Hahn. Doch wie kommt er als Computerlinguist
überhaupt dazu, sich ausgerechnet mit mathematischen Modellen zu Wahrnehmungsverzerrungen zu beschäftigen? Die erwähnte Studie beschäftigt sich etwa mit der Frage, wieso Menschen im Gegensatz zu gut erinnerten eindeutigen Winkeln (0- oder 90-Grad) unpräzise Winkel gegenläufig zuordnen. Heißt: Einen 30-Grad-Winkel erinnern wir in Richtung 45 Grad, einen mit 70 Grad hingegen auch (anstatt näherliegend in Richtung 90 Grad). Flache Winkel erinnern wir also steiler und umgekehrt steilere flach.
Was erst mal nach einem eher abseitigen Wahrnehmungsproblem klingt, ist laut Hahn symptomatisch für systematische Fehler, die unser Gehirn begeht. In Ermangelung von Eindeutigkeit fischt es, wenn man so will, gezielt im Trüben: „Weg vom Präzisen und hin zum Unpräzisen“, umreißt er das Prinzip. Auf Winkel bezogen, weiß unser Gehirn, dass es
einen eindeutigen Winkel (90-Grad) mühelos erinnern würde und schätzt im anderen Fall nach Wahrscheinlichkeit. Redet man länger mit Hahn, wird klar, dass das Winkelphänomen sehr viel enger mit seiner vorangegangener Sprachforschung verbunden ist, als man glaubt. Wieso?
Ausgehend von dem bekannten Fakt, dass komplizierte Sätze oder Wörter schlechter erinnert werden, hatte Hahn vor drei Jahren ein Sprachmodell entwickelt, anhand dessen sich vorhersagen lässt, ob und wie unser Gedächtnis per kognitiver Effizienz schwierige Sätze durch Rückgriff auf andere, vertrautere Satzmuster komplettiert und so Erinnerungslücken schließt. Wir füllen also mit Bekanntem auf. Nur ein Beispiel: Wir erinnern einen Satz, der mit „Die Tatsache, dass“beginnt leichter als einen, der mit „Der Bericht, dass“einsetzt. Überzeugt davon, dass die Erkenntnisse aus dieser Studie zu Textverständnisproblemen sich auch auf das neuronale Codieren von Sinneseindrücken anwenden ließen, fahndete er nach einschlägigen Forschungen. So stieß Hahn, der in Tübingen Mathematik und Computerlinguistik studiert und an der Stanford University (Kalifornien) promoviert hat, auf Arbeiten von Xue-Xin Wei. Nicht lange danach machten sie sich gemeinsam an das jüngste Forschungsfeld.
Die gewonnenen Erkenntnisse will der 32-jährige Saarbrücker Professor nun mit Blick auf ein optimiertes Training von KI-Sprachmodellen weiterverfolgen. „Meine Vermutung ist, dass bestimmte neuronale Codie
rungsfehler bei der KI auch auftreten“, umreißt Hahn die Zielrichtung. Je komplexer die Fragestellungen seien, die man Sprachbots wie etwa ChatGPT zu beantworten aufgebe, umso größer sei deren Fehleranfälligkeit. Die falschen Antworten von Sprachbots ließen sich, glaubt Hahn, womöglich auf Basis des eingangs erwähnten, mit seinem amerikanischen Forscherkollegen entwickelten mathematischen Modells genauer herleiten und somit korrigieren.
Auf der anderen Seite weiß Hahn aus seinen bisherigen Sprachforschungen, dass KI-Modelle – anders als wir Menschen – beim Verständnis schwieriger Satzphrasen und seltener Wörter nicht mit Gedächtnisbeschränkungen zu kämpfen haben. Letzteres, erzählt Hahn, lasse sich nutzbar machen, wenn Sprachmodelle in automatisierten Kundengesprächen solche menschlichen Beschränkungen bei der Spracherfassung berücksichtigten. Denkt man die Sache weiter, versteht man, weshalb Hahn hier ethische Fragen tangiert sieht, die zu lösen von grundlegendem Interesse sei.
Dass der 32-Jährige mit seiner chinesischen Frau und dem gemeinsamen, knapp dreijährigen Sohn in Saarbrücken gelandet ist, erklärt er nicht zuletzt mit dem Renommee des dortigen Forschungsfeldes, das eine Art Viereck aus Sprachforschung, Computerlinguistik, Informatik und Kognitionswissenschaft bildet. An diesen Schnittstellen ist seine eigene Forschung angesiedelt. „Insoweit kann man durchaus sagen, dass ich hierhin wollte.“