Wie viel „Weimar“in der Berliner Republik steckt
Lange gehörte es zum Konsens im Nachkriegsdeutschland, diese Bundesrepublik als gefestigte Demokratie zu empfinden – weit weg von Weimarer Verhältnissen. Dennoch gehen Hunderttausende auf die Straßen, weil sie sich um den Bestand der Demokratie sorgen. Wa
Befürchtungen gab es früh. Galt die Zufriedenheit der Deutschen mit ihrem neuen Staat nur ihrem Wohlstandserleben? War die Bundesrepublik nur eine Schönwetterdemokratie? Würden extremistische Kräfte wieder Zulauf bekommen, wenn Krisen die Zukunft verdüstern? Doch 1956 lieferte der Schweizer Korrespondent Fritz René Aleman mit seinem Buch bereits den Slogan für die Grundüberzeugung, die von Historikern, Demoskopen und einem breiten Publikum geteilt und getragen wurde: „Bonn ist nicht Weimar.“Doch was ist mit Berlin? Gehen die vielen hunderttausend Menschen etwa grundlos auf die Straße, weil sie um ihre Demokratie fürchten?
Die Welle der Proteste folgte einer Medienberichterstattung über Pläne am rechtsextremen und rechtspopulistischen Rand zur „Remigration“, also der Vertreibung von Menschen aus Deutschland. Das war der Anlass, aber nicht der Grund. Denn der aktuelle Vorgang trifft auf das Gefühl,
Zeuge verhängnisvoller Entwicklungen zu sein, die sich die Generation hundert Jahre nach „Weimar“lange Zeit nicht mehr vorzustellen vermochte, nun aber wieder am Werk wähnt.
Da ist der Verlust von Kommunikationsfähigkeit. In der Weimarer Republik liefen die Debatten zumeist in parteilichen Zeitungen und Parteibewegungen, die von konträren Wahrnehmungen der Wirklichkeit geprägt waren. Die Bonner Republik hingegen hatte bei aller Konkurrenz doch eine, von breitem Grundkonsens charakterisierte, Debattenkultur. Die zerbricht zunehmend. Algorithmen binden immer größere Teile der Bevölkerung in unterschiedlichen Echokammern, befeuern sie nur noch mit Behauptungen, die zu vorgefassten Meinungen passen und machen sie unfähig zum Konsens bereits über das, was ist. „Weimar“wurde verwundbar durch Verschwörungserzählungen nach Art der „Dolchstoßlegende“, wonach die militärische Niederlage von inneren linken Kräften bewirkt worden sei. Berlin hangelt sich gerade von einer Legende zur nächsten. Von der angeblichen „Öffnung“der Grenzen über seltsame Corona-Verdrehungen zum angeblich von der Ukraine „provozierten“russischen Verteidigungskrieg.
Da ist die Zunahme der politischen Gewalt. Sie war auch in den Bonner und den ersten Berliner Jahren Wellenbewegungen unterworfen. Aber dass selbst Kommunalpolitiker aus Angst vor Angriffen ihr Engagement aufgeben, dass Parteiveranstaltungen abgesagt und Politiker vor Schlägertrupps geschützt werden müssen, gehört zum Phänomen Weimarer Verhältnisse.
Da ist das internationale Umfeld. Die Verwandlung Italiens in eine faschistische Diktatur ging der Machtübereignung an die Nazis in Deutschland knapp elf Jahre voraus. Viele Demokratien gerieten in Krisen. Und nun? Regieren in Italien die Postfaschisten, sorgen sich viele Amerikaner um ihre Demokratie in einer möglichen zweiten Präsidentschaft Donald Trumps, rechnen in Frankreich die meisten mit einem Wahlsieg Marine Le Pens bei den 2027erPräsidentschaftswahlen, hat auch in Ungarn eine „illiberale“Demokratie die Strukturen verändert.
Da ist die Zersplitterung des Parteiensystems. Die Deutschen hatten sich daran gewöhnt, dass die verschiedenen Konzepte bereits einen Konsens innerhalb von drei, vier Parteien durchliefen, mal die rechte, mal die linke Mitte das Land damit reformierte. Die innerparteiliche Konsensfindung verschwindet immer mehr, wenn CDU, CSU, SPD, Grüne, FDP, Linke, AfD, Freie Wähler, BSW und Werteunion auf offener Bühne unversöhnliche Alleinstellungsmerkmale immer schärfer konturieren, die Republik sich mit Kompromissbildung immer schwerer tut.
Da ist Thüringen. Fünf Monate vor den Landtagswahlen ist keine demokratische Mehrheit in Sicht, wenn SPD, Grüne und FDP an der FünfProzent-Hürde zu scheitern drohen, AfD und Wagenknecht-Bündnis satt zweistellig abschneiden. Diese Unregierbarkeit bildet eine direkte Parallele zu 1930, als Thüringen zum Experimentierfeld für die erste
NSDAP-Regierungsbeteiligung auf Länderebene wurde.
Natürlich ist jeder Nazi-Vergleich problematisch, weil er aus heutiger Perspektive die monströsen Verbrechen des Regimes von 1933 bis 1945 banalisiert. Doch der Blick über Hitler-Deutschland hinweg auf die Perspektive der Menschen in den Weimarer Jahren davor lässt die NSDAP längst nicht als geschlossenblutrünstige Bewegung erkennen, sondern als zerstrittenen Haufen, bei dem nicht ausgemacht schien, ob sich die Nationalisten oder die Sozialisten durchsetzen, die Gewaltbereiten oder der friedfertige Anstrich. Auch der heutige Rechtsaußenbereich lässt vieles offen.
Ein markanter Fehler der Weimarer Republik bestand darin, keine gemeinsamen Brandmauern zu bauen. Mitte-Rechts-Parteien glaubten durch Anbiederung an Rechtsaußen Stimmen gewinnen zu können, Mittel-Links-Parteien bekämpften einheitlich alles, was rechts von ihnen beheimatet war. Und die Kommunisten verhetzten sogar die Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten“. Letztlich erleichterten sie alle eine Entwicklung, bei der sich das bürgerliche Publikum immer weiter nach rechts neigte. Daran muss jeder denken, der heute „gegen rechts“auf die Straße geht, statt das rechte demokratische Bürgertum vom Rechtsextremismus zu trennen. Im Übrigen zeigt „Weimar“mit dem vorübergehenden Verbot der NSDAP auch, dass dieses Mittel Stimmungen nicht in den Griff bekommt.
Ein markanter Fehler der Weimarer Republik bestand darin, keine gemeinsamen Brandmauern zu bauen.