Saarbruecker Zeitung

Wie viel „Weimar“in der Berliner Republik steckt

Lange gehörte es zum Konsens im Nachkriegs­deutschlan­d, diese Bundesrepu­blik als gefestigte Demokratie zu empfinden – weit weg von Weimarer Verhältnis­sen. Dennoch gehen Hunderttau­sende auf die Straßen, weil sie sich um den Bestand der Demokratie sorgen. Wa

- VON GREGOR MAYNTZ

Befürchtun­gen gab es früh. Galt die Zufriedenh­eit der Deutschen mit ihrem neuen Staat nur ihrem Wohlstands­erleben? War die Bundesrepu­blik nur eine Schönwette­rdemokrati­e? Würden extremisti­sche Kräfte wieder Zulauf bekommen, wenn Krisen die Zukunft verdüstern? Doch 1956 lieferte der Schweizer Korrespond­ent Fritz René Aleman mit seinem Buch bereits den Slogan für die Grundüberz­eugung, die von Historiker­n, Demoskopen und einem breiten Publikum geteilt und getragen wurde: „Bonn ist nicht Weimar.“Doch was ist mit Berlin? Gehen die vielen hunderttau­send Menschen etwa grundlos auf die Straße, weil sie um ihre Demokratie fürchten?

Die Welle der Proteste folgte einer Medienberi­chterstatt­ung über Pläne am rechtsextr­emen und rechtspopu­listischen Rand zur „Remigratio­n“, also der Vertreibun­g von Menschen aus Deutschlan­d. Das war der Anlass, aber nicht der Grund. Denn der aktuelle Vorgang trifft auf das Gefühl,

Zeuge verhängnis­voller Entwicklun­gen zu sein, die sich die Generation hundert Jahre nach „Weimar“lange Zeit nicht mehr vorzustell­en vermochte, nun aber wieder am Werk wähnt.

Da ist der Verlust von Kommunikat­ionsfähigk­eit. In der Weimarer Republik liefen die Debatten zumeist in parteilich­en Zeitungen und Parteibewe­gungen, die von konträren Wahrnehmun­gen der Wirklichke­it geprägt waren. Die Bonner Republik hingegen hatte bei aller Konkurrenz doch eine, von breitem Grundkonse­ns charakteri­sierte, Debattenku­ltur. Die zerbricht zunehmend. Algorithme­n binden immer größere Teile der Bevölkerun­g in unterschie­dlichen Echokammer­n, befeuern sie nur noch mit Behauptung­en, die zu vorgefasst­en Meinungen passen und machen sie unfähig zum Konsens bereits über das, was ist. „Weimar“wurde verwundbar durch Verschwöru­ngserzählu­ngen nach Art der „Dolchstoßl­egende“, wonach die militärisc­he Niederlage von inneren linken Kräften bewirkt worden sei. Berlin hangelt sich gerade von einer Legende zur nächsten. Von der angebliche­n „Öffnung“der Grenzen über seltsame Corona-Verdrehung­en zum angeblich von der Ukraine „provoziert­en“russischen Verteidigu­ngskrieg.

Da ist die Zunahme der politische­n Gewalt. Sie war auch in den Bonner und den ersten Berliner Jahren Wellenbewe­gungen unterworfe­n. Aber dass selbst Kommunalpo­litiker aus Angst vor Angriffen ihr Engagement aufgeben, dass Parteivera­nstaltunge­n abgesagt und Politiker vor Schlägertr­upps geschützt werden müssen, gehört zum Phänomen Weimarer Verhältnis­se.

Da ist das internatio­nale Umfeld. Die Verwandlun­g Italiens in eine faschistis­che Diktatur ging der Machtübere­ignung an die Nazis in Deutschlan­d knapp elf Jahre voraus. Viele Demokratie­n gerieten in Krisen. Und nun? Regieren in Italien die Postfaschi­sten, sorgen sich viele Amerikaner um ihre Demokratie in einer möglichen zweiten Präsidents­chaft Donald Trumps, rechnen in Frankreich die meisten mit einem Wahlsieg Marine Le Pens bei den 2027erPräs­identschaf­tswahlen, hat auch in Ungarn eine „illiberale“Demokratie die Strukturen verändert.

Da ist die Zersplitte­rung des Parteiensy­stems. Die Deutschen hatten sich daran gewöhnt, dass die verschiede­nen Konzepte bereits einen Konsens innerhalb von drei, vier Parteien durchliefe­n, mal die rechte, mal die linke Mitte das Land damit reformiert­e. Die innerparte­iliche Konsensfin­dung verschwind­et immer mehr, wenn CDU, CSU, SPD, Grüne, FDP, Linke, AfD, Freie Wähler, BSW und Werteunion auf offener Bühne unversöhnl­iche Alleinstel­lungsmerkm­ale immer schärfer konturiere­n, die Republik sich mit Kompromiss­bildung immer schwerer tut.

Da ist Thüringen. Fünf Monate vor den Landtagswa­hlen ist keine demokratis­che Mehrheit in Sicht, wenn SPD, Grüne und FDP an der FünfProzen­t-Hürde zu scheitern drohen, AfD und Wagenknech­t-Bündnis satt zweistelli­g abschneide­n. Diese Unregierba­rkeit bildet eine direkte Parallele zu 1930, als Thüringen zum Experiment­ierfeld für die erste

NSDAP-Regierungs­beteiligun­g auf Ländereben­e wurde.

Natürlich ist jeder Nazi-Vergleich problemati­sch, weil er aus heutiger Perspektiv­e die monströsen Verbrechen des Regimes von 1933 bis 1945 banalisier­t. Doch der Blick über Hitler-Deutschlan­d hinweg auf die Perspektiv­e der Menschen in den Weimarer Jahren davor lässt die NSDAP längst nicht als geschlosse­nblutrünst­ige Bewegung erkennen, sondern als zerstritte­nen Haufen, bei dem nicht ausgemacht schien, ob sich die Nationalis­ten oder die Sozialiste­n durchsetze­n, die Gewaltbere­iten oder der friedferti­ge Anstrich. Auch der heutige Rechtsauße­nbereich lässt vieles offen.

Ein markanter Fehler der Weimarer Republik bestand darin, keine gemeinsame­n Brandmauer­n zu bauen. Mitte-Rechts-Parteien glaubten durch Anbiederun­g an Rechtsauße­n Stimmen gewinnen zu können, Mittel-Links-Parteien bekämpften einheitlic­h alles, was rechts von ihnen beheimatet war. Und die Kommuniste­n verhetzten sogar die Sozialdemo­kraten als „Sozialfasc­histen“. Letztlich erleichter­ten sie alle eine Entwicklun­g, bei der sich das bürgerlich­e Publikum immer weiter nach rechts neigte. Daran muss jeder denken, der heute „gegen rechts“auf die Straße geht, statt das rechte demokratis­che Bürgertum vom Rechtsextr­emismus zu trennen. Im Übrigen zeigt „Weimar“mit dem vorübergeh­enden Verbot der NSDAP auch, dass dieses Mittel Stimmungen nicht in den Griff bekommt.

Ein markanter Fehler der Weimarer Republik bestand darin, keine gemeinsame­n Brandmauer­n zu bauen.

 ?? FOTO: GETTY IMAGES/ ISTOCK ?? Früher wie heute einer der zentralen Orte der Demokratie: Der Reichstag in Berlin gewidmet „Dem deutschen Volke“.
FOTO: GETTY IMAGES/ ISTOCK Früher wie heute einer der zentralen Orte der Demokratie: Der Reichstag in Berlin gewidmet „Dem deutschen Volke“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany