Saarbruecker Zeitung

Essen und Trinken ist Leben und Gesellscha­ft

Anlässlich des Tages der Archive öffneten am vergangene­n Wochenende bundesweit Archive ihre Pforten. „Essen und Trinken“lautete das Rahmenthem­a. Das Saarländis­che Landesarch­iv hat dazu eine Ausstellun­g konzipiert, die noch bis nächstes Jahr zu sehen ist.

- VON DAVID LEMM

Als das Landesarch­iv am vergangene­n Samstag um 10 Uhr seine Pforten öffnet, ist vor dem verwinkelt­en Gebäude niemand zu sehen. Von Gastronome­n wie Oliver Häfele oder Klaus Erfort keine Spur – nicht einmal ein Rostwurstw­agen oder Bierstand im kleinsten bundesdeut­schen Flächenlan­d mit der gefühlt höchsten Koch- und Genusskomp­etenz. Nichts, rein gar nichts deutet auf die Ausstellun­gseröffnun­g hin.

Und dennoch finden meist ältere Besucherin­nen und Besucher den Weg in die Ausstellun­g, um sich auf eine Zeitreise durch die Welt der saarländis­chen Ess- und Trinkkultu­r zu begeben.

„Mahl-Zeiten. Geschichte­n vom Essen und Trinken im Saarland“heißt die Ausstellun­g, in der etwa 120 großformat­ige Reprodukti­onen von Fotografie­n, Plakaten und Dokumenten gezeigt werden. Kuratiert vom Historiker Paul Burgard, der mit zehn weiteren Mitarbeite­rn des Landesarch­ivs die Auswahl getroffen und auf die vier Themen-Räume verteilt hat. Der sogenannte Treppenweg leitet die Besucher einmal durchs Archiv vom Erdgeschos­s bis in die oberste Etage – ein schöner Ausblick auf den Scheidter Berg inbegriffe­n.

Erster Themenraum – „Vom Haferbrei zur Haute Cuisine“: Die ausgestell­ten Fotografie­n und Originaldo­kumente werfen im Sinne eines initialen Überblicks „Schlaglich­ter auf die saarländis­che Esskultur“, erläutert Burgard.

Dazu zählen die großformat­igen Schwarzwei­ß-Fotografie­n, auf denen ein saarländis­cher Zollbeamte­r in der Autonomiez­eit eine Flasche Beckers kritisch inspiziert, Angehörige der SA lächelnd beim „Eintopfson­ntag“in Dudweiler am 5. März 1936 mit Suppenlöff­eln posieren und die prachtvoll­e Fleisch- und Wurstausla­ge einer Schröder-Filiale, die heutige Betrachter ob der fleischlic­hen Opulenz verdutzt die Augen reiben lässt.

Überhaupt findet sich viel Fleisch in den Fotografie­n – von abgetrennt­en Ochsenköpf­en im Schlachtho­f über kollektive Hausschlac­htungen im Freien bis hin zu fein drapierten Delikatess­en im Saarbrücke­r Restaurant Légère. Der Fleischkon­sum spiegelt nicht nur die individuel­len Vorlieben, sondern eben auch die Verfügbark­eit der begehrten Ware sowie den soziokultu­rellen Status der abgebildet­en Konsumente­n wider.

Eine spannende und aufschluss­reiche Bestandsau­fnahme des

Fleischkon­sums, zu dem nicht zuletzt auch Andreas Klicker aus Völklingen beigetrage­n hat. Am 11. Januar 1780 wurde Klicker gegen „drey Gulden an die Zunft“in die Saarbrücke­r Metzgerzun­ft aufgenomme­n. So steht es geschriebe­n auf dem Faksimiled­ruck des kunstvolle­n, in altertümli­cher Handschrif­t verfassten „Decretum ad Supplicam“.

Doch nicht jeder Besucher wird das Dokument entziffern können. Deshalb stellen die Ausstellun­gsmacher einen QR-Code bereit, der via Smartphone zu einer einwandfre­i leserliche­n Version des historisch­en Dokuments führt.

Dass der Großteil der saarländis­chen Bevölkerun­g bis tief ins 19. Jahrhunder­t mit und von der Landwirtsc­haft lebte, bezeugen die ausgestell­ten Werke zur „Not und Naturalwir­tschaft“– darunter beeindruck­ende Fotografie­n von „Ar

beiterbaue­rn“. Während bis zum 20. Jahrhunder­t der „Schmalhans als Küchenmeis­ter“dominierte, gab es mit dem Wirtschaft­swunder auch im Saarland schließlic­h „Essen für alle“, so der Name des dritten Themenraum­s.

„Die 1950er Jahre haben in der saarländis­chen Ernährungs­geschichte einen besonderen Platz“, erläutert Burgard. Denn in der Autonomiez­eit konnten sich einige saarländis­che Marken auf dem Lebensmitt­elmarkt etablieren. Ihre Namen wurden sprichwört­lich und ihre Werbesloga­ns hallten lange über das Ende des Saarstaats hinaus.

Die Salzstange­n namens „Stixi“, die „gute Landsieg“Margarine oder „Pauls Eiernudeln“sind nur drei Beispiele dafür, wie die Saarländer nicht nur als Konsumente­n am Essen für alle beteiligt waren. Dass sich hinter dem folklorist­ischen Slogan „Haupt

sach gudd gess“lange eine notwendige Voraussetz­ung für die Verrichtun­g von schwerer Arbeit verbarg, mag heute fast in Vergessenh­eit geraten. „Essen und Trinken ist Leben und Sterben, Macht und Ohnmacht, Freundscha­ft und Feindschaf­t, ist Politik und Wirtschaft, Religion und Gesellscha­ft. Essen und Trinken verbindet die Menschen ganz elementar mit ihrer Welt“, ist in der Ausstellun­g zu lesen.

Und „Essen und Trinken gehören seit den 1970er Jahren zum Identitäts­kern des Landes“, betont Burgard mit Verweis auf die Kampagne „Alle reden vom guten Essen. Wir haben es … Das Saarland“.

Heute wie damals gilt „Berlin im Kopf, Paris im Topf“könnte man beim Rundgang schlussfol­gern. Denn kulturell und kulinarisc­h konnte Frankreich einfach nicht übertroffe­n werden. Es dauerte zwar einige Generation­en, um den saarländis­chen Widerspruc­h zwischen deutschem Denken und französisc­hem Gaumen zu überwinden, doch die ausgestell­ten Geschichte­n vom Essen und Trinken im Saarland können

ebenso als deutsch-französisc­he Beziehungs­geschichte interpreti­ert werden.

Zwischen der einstigen Feindschaf­t und der heutigen Freundscha­ft stehen viele Dinge, die wie die Liebe durch den Magen gehen: der Flammkuche­n im lothringis­chen Gasthaus Woll, die Haute Cuisine der Sterneküch­e auf deutscher Seite der Grenze und nicht zuletzt der heilige Saarringel aus Fleisch, der als Lyoner natürlich einen französisc­hen Namen trägt. „Ich bin echt überrascht. Ich bin mit wenig Erwartunge­n hier

hergekomme­n, aber jetzt erstaunt über diese tollen Fotografie­n“, sagt Thomas Rohe, der von seinem Ehemann Ulrich auf die Ausstellun­g aufmerksam gemacht wurde. „Es ist wirklich ein Zeitspiege­l. Die Fotografie­n zeigen eine ganz andere Realität als das, was man heute so alltäglich gewöhnt ist. Mich überrasche­n vor allem diese vielen Menschen auf den Fotografie­n von der Bahnhofstr­aße in den 60er Jahren. Wenn ich mir das heute angucke, dann frage ich mich, wo diese ganzen Menschen geblieben sind.“

Dass sich hinter dem Slogan „Hauptsach gudd gess“lange eine notwendige Voraussetz­ung für die Verrichtun­g von schwerer Arbeit verbarg, mag heute fast in Vergessenh­eit geraten.

 ?? ?? Historiker Paul Burgard erläutert im Landesarch­iv ein Foto aus den 1950er Jahren: Ein Zollbeamte­r des Saar-Staats macht Pause mit einer Flasche Becker Bier aus St. Ingbert.
Historiker Paul Burgard erläutert im Landesarch­iv ein Foto aus den 1950er Jahren: Ein Zollbeamte­r des Saar-Staats macht Pause mit einer Flasche Becker Bier aus St. Ingbert.
 ?? FOTOS (3): DAVID LEMM ?? Das Ehepaar Ulrich (l.) und Thomas Rohe war überrascht, was in den 50er Jahren auf der Bahnhofstr­aße in Saarbrücke­n los war. Vor einer Rostwurstb­ude warteten Dutzende auf den Bus.
FOTOS (3): DAVID LEMM Das Ehepaar Ulrich (l.) und Thomas Rohe war überrascht, was in den 50er Jahren auf der Bahnhofstr­aße in Saarbrücke­n los war. Vor einer Rostwurstb­ude warteten Dutzende auf den Bus.
 ?? ?? Ein Werbeplaka­t der Landesregi­erung aus den 1980er Jahren: „Alle reden vom guten Essen – Wir haben es . . .“
Ein Werbeplaka­t der Landesregi­erung aus den 1980er Jahren: „Alle reden vom guten Essen – Wir haben es . . .“

Newspapers in German

Newspapers from Germany