Tanz mit höchster Präzision und Achtsamkeit
Am Donnerstag standen beim Tanzfestival Saar zwei Stücke auf dem Programm. Das Publikum war in Saarbrücken und Saarlouis gleichermaßen begeistert.
„Saarbrücken hat ein Tanzpublikum, die Begeisterung ist da“, begrüßte Ballettdirektor Stijn Celis die Zuschauer zur Halbzeit des Tanzfestivals Saar am Donnerstag sichtlich beglückt. Und das saarländische Tanzpublikum scheint auch sehr offen für Neues, Unbekanntes und dem Programmauswahlteam Stijn Celis/Klaus Kieser zu vertrauen. Denn an einem Werktag schon um 18 Uhr die Alte Feuerwache fast voll zu bekommen und dann noch für eine junge Company, die hier zum ersten Mal zu Gast ist, das muss man erst mal schaffen.
„Terranova / Hidden Link“– der Titel des Stücks der Company Diego Tortelli & Miria Wurm deutet schon an, wo es lang geht. Der italienische Choreograf und zuvor gefeierte Tänzer, der mit einer Dramaturgin im festen Team arbeitet, möchte Neuland betreten, eine eigene, neue Formensprache erfinden. Schon länger, kann man lesen, interessiere Tortelli das Internet als ein Phänomen, das die Menschen weltweit und mit unsichtbar bleibenden Geräten und Leitungen vernetzt. Neuerdings befasse er sich auch mit dem noch nicht so lange erforschten Phänomen, wie Pflanzen durch unterirdische Vernetzung kommunizieren.
In der ersten Fassung seines Stücks trug Tortellis Tanzduo noch grüne Trikots, in der in Saarbrücken uraufgeführten neuen und erweiterten Version jedoch hautfarbene Bodysuits mit Netzstruktur und Glitzer auf Schultern, Gesicht und Haaren. Nicht nur deshalb assoziiert man mit den beiden eher zwei Wesen von einem fernen Stern mit einem Hauch Reptilhaftem. Eingangs fasst der Tänzer seine Tanzpartnerin seitlich an den Kopf, wobei beide die Köpfe ruckartig und fast synchron seitlich neigen. Diese mehrfach wiederkehrende ist nur eine Bewegung von vielen, die uns diese beiden Kreaturen
so seltsam fremdartig erscheinen lassen. Der abwechslungsreiche Soundtrack mit sphärischen, metallisch-scharfen und düster-dumpfen Klängen und Beats tut sein Übriges zu einer schillernden, entrückten Atmosphäre zu.
In einem undefinierbaren Raum, in den ab und zu mystifizierender Nebel pufft, die Lichtbestrahlung von warm nach kalt changiert, bewegen sich die kühlen Glitzerwesen nach ganz eigenen, rätselhaften Regeln, die sich scheint's von allem Bekannten absetzen sollen und es auch tun. Mal geben sich die beiden unglaublich biegsam wie Schlangenmenschen, mal lassen sie ihre Unterarme mechanisch kreisen, als hätten sie 360-Grad-Gelenke oder verharren in eckigen Posen. Mal gehen sie ruppig miteinander um, mal genügt ein winziger Berührungsimpuls, um den anderen in eine komplizierte Drehung zu bringen. Emotionen spielen hier jedoch keine Rolle, die Zwei behalten durchgängig einen leicht
entrückten Blick und teilnahmslosernsten Ausdruck. Welcher „Link“verbindet die beiden, wer oder was steckt noch dahinter? Dieses Rätsel bleibt ungelöst. Tanztechnisch wirkt das alles höchst anspruchsvoll und lange sieht man dem Geschehen auch fasziniert zu. Doch zehn Minuten vor Schluss wartet man darauf, dass etwas Neues oder eben dieser „Link“endlich kommt.
Weiter geht es an diesem Abend in Saarlouis mit der Company GN/MC, das Kürzel steht für das libanesischspanische Choreografen-Team Guy Nader und Maria Campos aus Barcelona. 2022 hatten sie die Zuschauer beim Tanzfestival Saar in der Alten Feuerwache mit „Set of Sets“von den Sitzen gerissen, würde ihnen das mit dem neuen Stück „Made of Space“im Theater am Ring erneut gelingen? Die Grundkonstellationen der beiden Stücke sind sehr ähnlich. Eine vergleichbar große Gruppe von drei Tänzerinnen und vier Tänzern und zwei Live-Musikern, die Schlagwerk und Vibraphon plus Elektronik auf der Bühne spielen. Neu ist diesmal das aparte Bühnenbild aus einer Leinwand-Konstruktion, die an den beiden Seiten jeweils einen Schwung hat. Wie beim vorigen Mal beginnt das Stück mit einem „soft opening“, laufen nur ganz allmählich eine Tänzerin nach der anderen ein, um ihre endlosen Kreise auf der Bühne zu drehen. Wieder ist es eine Wonne, zu sehen, wie die Tanzenden Strudel bilden, in einen unaufhaltsamen Energiefluss kommen, der weder durch Ermüdung noch Kollisionen gebremst wird. Und wie auch in der Interaktion keine Energie verloren geht, jeder Schwung für die nächste Figur genutzt wird. Es sei denn, man erstarrt gelegentlich einmal zu einer verknäulten Gruppen-Skulptur und setzt so gezielt eine Zäsur.
Aber sonst bleibt alles stets in Bewegung, nur ein wenig angetrieben oder entschleunigt durch die kongenialen beiden Musiker, die am Vibraphon minimalistische schnelle Sounds à la Steve Reich zaubern oder auch mal gemeinsam im Stehen das Schlagzeug behämmern. Scheinbar spontan greifen die Tänzer hier zu mehreren zwischendurch das Bein oder den Arm eines anderen, um ihn oder sie sacht über den Boden zu ziehen oder schwungvoll wie eine Schaukel in die Höhe zu befördern. Was so natürlich, beiläufig wirkt, verlangt selbstredend höchste Präzision und Achtsamkeit füreinander. Auch bringt die Gruppe wie beim vorigen Mal einzelne schleudernd zum „Fliegen“, fängt sie, die blind Vertrauenden, auf wie beim Stagediving. Einige lassen ein paar flotte Breakdance-Kreiselfiguren auf dem Boden einfließen. Akrobatik, Kampfkunst und Kontaktimprovisation gehören ja zu den Basiskompetenzen der Tanzgruppe.
Vielleicht hatte man einige Würfe etwas höher in Erinnerung, dafür gefällt, wie das große geschwungene Bühnen-Leintuch als Versteck- und Umrundungselement genutzt wird. Und doch, auch bei „Made of Space“längt es sich am Ende, will sich der Zauber des ersten Mals hier nicht wieder ganz einstellen. Das Publikum, in der Alten Feuerwache wie im Theater am Ring gibt sich mehrheitlich begeistert. In Saarlouis will der Applaus schier nicht enden.