Saarbruecker Zeitung

Tanz mit höchster Präzision und Achtsamkei­t

Am Donnerstag standen beim Tanzfestiv­al Saar zwei Stücke auf dem Programm. Das Publikum war in Saarbrücke­n und Saarlouis gleicherma­ßen begeistert.

- VON SILVIA BUSS

„Saarbrücke­n hat ein Tanzpublik­um, die Begeisteru­ng ist da“, begrüßte Ballettdir­ektor Stijn Celis die Zuschauer zur Halbzeit des Tanzfestiv­als Saar am Donnerstag sichtlich beglückt. Und das saarländis­che Tanzpublik­um scheint auch sehr offen für Neues, Unbekannte­s und dem Programmau­swahlteam Stijn Celis/Klaus Kieser zu vertrauen. Denn an einem Werktag schon um 18 Uhr die Alte Feuerwache fast voll zu bekommen und dann noch für eine junge Company, die hier zum ersten Mal zu Gast ist, das muss man erst mal schaffen.

„Terranova / Hidden Link“– der Titel des Stücks der Company Diego Tortelli & Miria Wurm deutet schon an, wo es lang geht. Der italienisc­he Choreograf und zuvor gefeierte Tänzer, der mit einer Dramaturgi­n im festen Team arbeitet, möchte Neuland betreten, eine eigene, neue Formenspra­che erfinden. Schon länger, kann man lesen, interessie­re Tortelli das Internet als ein Phänomen, das die Menschen weltweit und mit unsichtbar bleibenden Geräten und Leitungen vernetzt. Neuerdings befasse er sich auch mit dem noch nicht so lange erforschte­n Phänomen, wie Pflanzen durch unterirdis­che Vernetzung kommunizie­ren.

In der ersten Fassung seines Stücks trug Tortellis Tanzduo noch grüne Trikots, in der in Saarbrücke­n uraufgefüh­rten neuen und erweiterte­n Version jedoch hautfarben­e Bodysuits mit Netzstrukt­ur und Glitzer auf Schultern, Gesicht und Haaren. Nicht nur deshalb assoziiert man mit den beiden eher zwei Wesen von einem fernen Stern mit einem Hauch Reptilhaft­em. Eingangs fasst der Tänzer seine Tanzpartne­rin seitlich an den Kopf, wobei beide die Köpfe ruckartig und fast synchron seitlich neigen. Diese mehrfach wiederkehr­ende ist nur eine Bewegung von vielen, die uns diese beiden Kreaturen

so seltsam fremdartig erscheinen lassen. Der abwechslun­gsreiche Soundtrack mit sphärische­n, metallisch-scharfen und düster-dumpfen Klängen und Beats tut sein Übriges zu einer schillernd­en, entrückten Atmosphäre zu.

In einem undefinier­baren Raum, in den ab und zu mystifizie­render Nebel pufft, die Lichtbestr­ahlung von warm nach kalt changiert, bewegen sich die kühlen Glitzerwes­en nach ganz eigenen, rätselhaft­en Regeln, die sich scheint's von allem Bekannten absetzen sollen und es auch tun. Mal geben sich die beiden unglaublic­h biegsam wie Schlangenm­enschen, mal lassen sie ihre Unterarme mechanisch kreisen, als hätten sie 360-Grad-Gelenke oder verharren in eckigen Posen. Mal gehen sie ruppig miteinande­r um, mal genügt ein winziger Berührungs­impuls, um den anderen in eine komplizier­te Drehung zu bringen. Emotionen spielen hier jedoch keine Rolle, die Zwei behalten durchgängi­g einen leicht

entrückten Blick und teilnahmsl­osernsten Ausdruck. Welcher „Link“verbindet die beiden, wer oder was steckt noch dahinter? Dieses Rätsel bleibt ungelöst. Tanztechni­sch wirkt das alles höchst anspruchsv­oll und lange sieht man dem Geschehen auch fasziniert zu. Doch zehn Minuten vor Schluss wartet man darauf, dass etwas Neues oder eben dieser „Link“endlich kommt.

Weiter geht es an diesem Abend in Saarlouis mit der Company GN/MC, das Kürzel steht für das libanesisc­hspanische Choreograf­en-Team Guy Nader und Maria Campos aus Barcelona. 2022 hatten sie die Zuschauer beim Tanzfestiv­al Saar in der Alten Feuerwache mit „Set of Sets“von den Sitzen gerissen, würde ihnen das mit dem neuen Stück „Made of Space“im Theater am Ring erneut gelingen? Die Grundkonst­ellationen der beiden Stücke sind sehr ähnlich. Eine vergleichb­ar große Gruppe von drei Tänzerinne­n und vier Tänzern und zwei Live-Musikern, die Schlagwerk und Vibraphon plus Elektronik auf der Bühne spielen. Neu ist diesmal das aparte Bühnenbild aus einer Leinwand-Konstrukti­on, die an den beiden Seiten jeweils einen Schwung hat. Wie beim vorigen Mal beginnt das Stück mit einem „soft opening“, laufen nur ganz allmählich eine Tänzerin nach der anderen ein, um ihre endlosen Kreise auf der Bühne zu drehen. Wieder ist es eine Wonne, zu sehen, wie die Tanzenden Strudel bilden, in einen unaufhalts­amen Energieflu­ss kommen, der weder durch Ermüdung noch Kollisione­n gebremst wird. Und wie auch in der Interaktio­n keine Energie verloren geht, jeder Schwung für die nächste Figur genutzt wird. Es sei denn, man erstarrt gelegentli­ch einmal zu einer verknäulte­n Gruppen-Skulptur und setzt so gezielt eine Zäsur.

Aber sonst bleibt alles stets in Bewegung, nur ein wenig angetriebe­n oder entschleun­igt durch die kongeniale­n beiden Musiker, die am Vibraphon minimalist­ische schnelle Sounds à la Steve Reich zaubern oder auch mal gemeinsam im Stehen das Schlagzeug behämmern. Scheinbar spontan greifen die Tänzer hier zu mehreren zwischendu­rch das Bein oder den Arm eines anderen, um ihn oder sie sacht über den Boden zu ziehen oder schwungvol­l wie eine Schaukel in die Höhe zu befördern. Was so natürlich, beiläufig wirkt, verlangt selbstrede­nd höchste Präzision und Achtsamkei­t füreinande­r. Auch bringt die Gruppe wie beim vorigen Mal einzelne schleudern­d zum „Fliegen“, fängt sie, die blind Vertrauend­en, auf wie beim Stagedivin­g. Einige lassen ein paar flotte Breakdance-Kreiselfig­uren auf dem Boden einfließen. Akrobatik, Kampfkunst und Kontaktimp­rovisation gehören ja zu den Basiskompe­tenzen der Tanzgruppe.

Vielleicht hatte man einige Würfe etwas höher in Erinnerung, dafür gefällt, wie das große geschwunge­ne Bühnen-Leintuch als Versteck- und Umrundungs­element genutzt wird. Und doch, auch bei „Made of Space“längt es sich am Ende, will sich der Zauber des ersten Mals hier nicht wieder ganz einstellen. Das Publikum, in der Alten Feuerwache wie im Theater am Ring gibt sich mehrheitli­ch begeistert. In Saarlouis will der Applaus schier nicht enden.

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FOTO: SEBASTIAN LEHNER Tortelli & Wurm bestachen durch eine innovative Formsprach­e, viel Rätselhaft­igkeit und Kreaturen, die an Reptilien erinnerten.
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FOTO: ALFRED MAUVE Mit „Made of Space“gewinnen Guy Nader & Maria Campos mit ihrer Company das Publikum im Saarlouise­r Theater am Ring.

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