Zeitreisen im Braunschweiger Land
Von der Säbelzahnkatze bis zu Heinrich dem Löwen – die ehemalige Kaiserstadt hat eine reiche Historie.
Sanft kräuselt die Bugwelle des Oker-Floßes das ruhige Wasser des Flusses. Unmerklich, und wegen seines Elektroantriebs, bewegt sich das eckige, rustikale und hölzerne Gefährt mit seinem Aufbau aus einfachen Bänken und Biertischen nahezu geräuschlos, fast schwebend vorwärts. Die nahen Ufer sind in üppiges Grün getaucht. Geschmeidig hängen die langen Blätter der Trauerweiden herunter, das Blattwerk berührt hier und da die Wasseroberfläche, an anderen Stellen neigen sich ihm mächtige Baumstämme entgegen und schaffen ein Szenario, das eines Regenwaldes würdig erscheint. Doch dabei umfließt die Oker in ihrer entspannten Langsamkeit gerade hier das Zentrum Braunschweigs, der zweitgrößten Stadt Niedersachsens.
Von dieser urbanen Nähe ist jedoch kaum etwas zu verspüren. In den versteckten Villen hinter den Gärten, die bis dicht ans Ufer heranreichen und teils eigene Bootsanleger besitzen, herrscht entschleunigte Ruhe, auf den wenigen Restaurantterrassen ein typisches Stimmengewirr, dezentes Klappern von Gläsern und Geschirr. Spaziergänger lustwandeln im Bürger-, Museum- und Theaterpark, führen ihre Hunde aus und schauen bisweilen versonnen auf die kleinen und größeren Wasserfahrzeuge, die das glatte Spiegelbild der Oker, geschaffen von Bäumen, Gärten und grünem Ufer, kurzzeitig in bizarre Schwingungen versetzen. Tatsächlich verlief der Fluss auf der Höhe von Braunschweig dereinst vieladrig in einer breiten Niederung mitten durch den Ort und wurde im 12. Jahrhundert während und nach der
Ägide Heinrichs des Löwen mittels zweier Umflutgräben um die zu dieser Zeit angelegte Stadtbefestigung geleitet, die auch heute noch das Areal der Innenstadt umschließen.
Der Welfen-Herzog begründete mit dem Bau der Burg Dankwarderode und der imposanten Domkirche, in deren Krypta er an der Seite seiner Gemahlin Mathilde beigesetzt ist, den herausragenden repräsentativen Status Braunschweigs, eines Mitglieds der Hanse, als bedeutende Residenzstadt. Sein Markenzeichen, der Löwe, ist ein stetig
im heutigen Stadtbild facettenreich wiederkehrendes Motiv. Insbesondere und stolz am Brunnen auf dem Burgplatz. Doch um das Original der Skulptur, des ersten freistehenden bronzenen Löwenbildwerks nördlich der Alpen, zu sehen, sollte man das Museum in der Burg Dankwarderode besuchen, das zudem noch weitere interessante, originale Artefakte des Welfenschatzes aus dem Hochmittelalter beherbergt. Die Burg war 1175 die Residenz Heinrichs, die heutige Schlossresidenz, die sich über den weitläufigen
Schlossplatz erhebt, entstand hingegen erst 1841 und erlitt während des Zweiten Weltkrieges, der das Zentrum Braunschweigs zu 90 Prozent zerstörte, schwerste Schäden, wurde 1960 gar zugunsten einer recht populären Parkanlage abgetragen, gut erhaltene Elemente der Fassade eingelagert.
Am westlichen Rand des historischen, von Fachwerk geprägten und einladenden Straßencafés dominierten Magni-Viertels rund um die stolze St. Magni-Kirche von 1031 schuf der italo-amerikani
sche Pop-Art Künstler James Rizzi das 2001 fertiggestellte, auffallend bunte und extrem kontrovers diskutierte „Happy-Rizzi-House“. Das Bürogebäude mit seinen zahllosen aufgemalten und hervorgehobenen, fröhlichen Symbolen stand unversehens und spektakulär kontrastreich in unmittelbarer Nähe zum ältesten auf 1432 datierten Fachwerkhaus Deutschlands am Ackerhof. Fünf Jahre nach Rizzi entstand auch das Residenzschloss neu am alten Platz, nach historischen Plänen und mit vielen originalen Bauelementen. Den Portikus krönt die größte Quadriga Europas. Die Rekonstruktion der bronzenen Wagenlenkergruppe mit den vier Pferden und der Lenkerin, der Stadtgöttin Brunonia, war bei ihrer Installation 2008 ein skulpturaler Traum in Gold, der zwischenzeitlich wieder Patina angelegt hat. In die Epoche lange vor Rizzi, Brunonia und Heinrich und damit weit zurück in die Menschheitsgeschichte führt das Forschungsmuseum Schöningen, der Ort beging 2023 seine 1275 Jahrfeier, etwa 40 Kilometer östlich von Braunschweig. Unweit der ehemaligen Zonengrenze, die am sehenswerten Grenzdenkmal Hötensleben noch mit Mauer, Stacheldraht und Wachtürmen in Erinnerung gehalten wird, fand man am Rande des Braunkohleabbaugebietes von Schöningen Ende der 1990er-Jahre hölzerne Speere und eine Lanze, die nachweislich aus der Zeit vor etwa 300 000 Jahren stammen. Die sensationelle Entdeckung der mithin ältesten Waffen, die unser Urahn namens Homo Heidelbergensis zur Jagd einsetzte, sorgte für neue Erkenntnisse in der Evolutionsforschung.
Am Ausgrabungsort, der aus einer nicht von der Eiszeit abgeschliffenen Landmasse besteht und der zu seiner Zeit ein Seeufer war, wird nach wie vor intensiv gearbeitet. So kommen die Überreste von Waldelefanten und Säbelzahnkatzen und allerlei vorzeitlichen Tieren zum Vorschein, selbst menschliche Fußabdrücke gehören zu den dokumentierten Funden, doch bis dato keine menschlichen Knochen. Neben der Fundstelle entstand 2013 eigens für die Speere ein im wahrsten Wortsinn architektonisches Glanzstück, das Paläon und heutige Forschungsmuseum Schöningen, das mit seiner Fassade ein sich ständig veränderndes Abbild der Landschaft spiegelt.